Engadiner Post: Sie sagen, dass Sie sich jahrelang und uneigennützig für die Aufdeckung des Baukartells eingesetzt haben. Wie haben Sie überhaupt davon erfahren?
Not Carl*: Ich habe es im Winter 2009 erfahren. Adam Quadroni kam damals zu mir nach Samnaun mit einer grossen Mappe und zeigte mir Unterlagen, die das Kartell offenlegten. Es waren Unterlagen bis ins Jahr 2006. Das weiss ich heute noch haargenau, weil ich sofort nachgeschaut habe, ob die Angelegenheit vielleicht schon verjährt ist, was aber nicht der Fall war.

Und warum ist er gerade zu Ihnen gekommen?
Ich denke, weil ich ihm schon jahrelang beigestanden habe, wenn er Rat oder Hilfe brauchte. Nach meinem Empfinden wollte er an dem Tag den Ratschlag eines Freundes im Hinblick auf die Unterlagen, die er mir zeigte. Er war sich nicht sicher, was zu tun sei, da er zuvor selbst Baukartellsmitglied war.

Vor 2009 haben Sie nichts gewusst?
Nein, ich hatte bis zu diesem Tag keine Ahnung von einem organisierten Kartell. Man darf dabei nicht vergessen, dass das Kartellgesetz erst 2004 verschärft wurde mit Sanktionen, wie man sie heute kennt. Man munkelte früher manchmal über Preisabsprachen, wie wohl in der übrigen Schweiz auch, man verliess sich dann aber auf Versprechen, dem sei nicht so. Seit 2004 weiss aber jeder, dass Preisabsprachen nicht nur illegal sind, sondern sogar zu Bussen in Millionenhöhe führen können.

Sie waren 2002/2003 doch Verwaltungsratspräsident der Firma Quadroni ?
Ja, das stimmt. Nach meinem Ausscheiden als Gemeindepräsident von Scuol hatte ich die Möglichkeit, verschiedene neue Aufgaben zu übernehmen. Unter anderem entschied ich mich, der kleinen Baufirma Quadroni beizustehen, weil diese dafür bekannt war, gute Arbeit zu leisten und den «Grossen» die Preise zu drücken. Nach einem Jahr trat ich aber aus dem Verwaltungsrat zurück, weil ich merkte, dass dies für die Firma Quadroni nicht von Vorteil war, sondern eher schädlich.

2009 haben Sie ihm geraten, zu den Behörden zu gehen?
Ich war schockiert über das, was ich da sah. Es war ein lückenloser Nachweis jahrelanger systematischer Preisabsprachen bei jedem grösseren Bauvorhaben. Ich empfand dies als absolute Frechheit der Bauunternehmer, denen ich auch als Gemeindepräsident von Scuol immer vertraut hatte. Deshalb sagte ich zu Adam Quadroni, er müsse mit diesen Unterlagen unverzüglich zum Tiefbauamt nach Chur. Das Tiefbauamt vergibt ja das grösste Volumen an Bauaufträgen und darum war ich mir sicher, dass man dort reagieren würde, wenn man diese Unterlagen sieht.

Offenbar wurde Quadroni in Chur mit offenen Händen empfangen?
Ja. Als er von Chur zurückkehrte, hat er mich angerufen, er war total happy. Die Herren in Chur hätten ihn mit offenen Armen empfangen und seien völlig überrascht gewesen, als er ihnen die Unterlagen gezeigt hätte. Man habe alles kopiert und ihm mehrmals gedankt. Quadroni war fest davon überzeugt, dass sich nun die Behörden der Sache annehmen würden. Er erhoffte sich natürlich, dass, wenn das Kartell über den Kanton auffliege, er dann mehr Arbeit bekomme und seine Firma dann besser überleben könne. Um die drei Wochen später berichtete er mir, der Chef des regionalen Tiefbauamtes in Scuol habe ihn angerufen und gesagt, die Unterlagen, die er nach Chur gebracht habe, seien zu alt, er müsse solche neueren Datums vorlegen können, damit man was unternehmen könne.

Wie haben Sie reagiert?
Ich war natürlich mehr als nur erstaunt. Wie gesagt, hatte ich ja die Unterlagen auf eine mögliche Verjährung überprüft. Ich habe ihm dann geraten, er solle mit den Unterlagen auch zum damaligen Gemeindepräsidenten und Grossrat Jon Domenic Parolini gehen. Ich war der Meinung, dass dieser das auch wissen müsse, um als Grossrat dem Baudepartement in Chur Beine zu machen.

Wenn Sie persönlich dazu beigetragen haben, das Baukartell auffliegen zu lassen, sind Sie jetzt doch sicher auch eine «Persona non grata» im Unterengadin?
Die meisten Leute im Unterengadin wissen, dass ich Präsident der Firma Quadroni war und dass ich das Domizil der Firma bis zum Konkurs in meinem Anwaltsbüro in Scuol hatte und zur Aufdeckung des Baukartells beitrug. Bis heute hat mir diesbezüglich noch niemand einen Vorwurf gemacht, im Gegenteil, ich werde dafür auf der Strasse gelobt. Wenn Adam Quadroni heute ausgegrenzt wird, so nicht deshalb, weil er das Baukartell hat auffliegen lassen, sondern weil er es zulässt und dazu beiträgt, die ganze Region bis hinauf zum Gericht als korrupt darzustellen. Dies wird mir jeden Tag von vielen Leuten bestätigt. Die Leute finden das einfach nicht korrekt von ihm.

Sie sind Richter des Regionalgerichts Engiadina Bassa/Val Müstair und setzen sich für den Präsidenten des gleichen Regionalgerichts ein, der nun medial unter Beschuss geraten ist. Da sind Sie doch auch befangen?
Das kann man so sehen. Ich halte aber vorerst fest, dass ich natürlich in keinem einzigen Verfahren, welches Adam Quadroni betrifft, als Richter involviert war, da ich ihn ja jahrelang unterstützt habe. Als sein Vorgänger, ein Baumeister, vor sieben Jahren sein Amt als Regionalgerichtspräsident aufgab, waren viele Leute der Meinung, es müsse ein ausgebildeter Jurist diese Aufgabe übernehmen und bestürmten mich deswegen. Ich fühlte mich aber dafür zu alt und musste wochenlang auf den jungen Juristen Orlando Zegg einreden, bis er sich überzeugen liess, für das Amt zu kandidieren. Er wurde dann auch bestens gewählt. Heute wird er völlig zu Unrecht diffamiert, ja bekommt sogar Morddrohungen. Hätte ich ihn damals nicht überredet, müssten er und seine Familie das heute nicht über sich ergehen lassen. Auch deshalb fühle ich mich verpflichtet, mit der Wahrheit herauszurücken, soweit ich sie kenne. Er kann sich infolge des Amtsgeheimnisses nicht verteidigen.

Aber Richter Zegg hat gegen Adam Quadroni zwei Mal eine Gefährdungsmeldung erhoben.
Nein, er hat eine einzige Gefährdungsmeldung erhoben, und das Kantonsgericht hat diese im öffentlichen und nachlesbaren Entscheid ZK1 18 17 auch ausdrücklich als richtig beurteilt und dabei sogar festgehalten, dass «offensichtlich konkrete Hinweise vorlagen, dass Schutzmassnahmen geboten seien». Das Kantonsgericht wies in diesem Entscheid sogar ausdrücklich auf die Meldepflicht gemäss Art. 443 Abs. 2 ZGB hin.

Wie unabhängig ist das Kantonsgericht? Es ist zwar Aufsichtsbehörde über das Regionalgericht, ist aber auch Teil der Justiz Graubünden, zu der auch das Regionalgericht gehört.
Es würde gerade noch fehlen, dass heute sogar die Unabhängigkeit unseres Kantonsgerichtes angezweifelt wird. Dann kann unser Staat gerade Konkurs anmelden. Eines der wichtigsten Grundprinzipien unseres Staates ist ja die Gewaltentrennung. Die Justiz muss als sogenannte dritte Gewalt völlig unabhängig von den politischen Behörden sein. Wir haben ja auf der Welt genug Beispiele dafür, wohin es führt, wenn diese Unabhängigkeit nicht gegeben ist. Ich bin deshalb so froh, dass das Kantonsgericht dies der PUK mit klaren Worten mitgeteilt hat.

Es gab aber auch diesen Brief an die Hausärztin. In dem Schreiben entsteht der Eindruck, Orlando Zegg wollte Quadroni über Weihnachten wegsperren ...
Schauen Sie bitte genau hin. Im SRF-Beitrag wurde das entsprechende Schreiben von Richter Zegg an die Hausärztin auszugsweise gezeigt, und ich habe es fotografiert und überreiche es Ihnen. Wie Sie sehen, geht aus dem Schreiben klar hervor, dass Richter Zegg aufgrund eines Gutachtens der Kinder- und Jugendpsychiatrie Graubünden an die Hausärztin gelangte und nicht von sich aus. Richter Zegg verlangt im Schreiben mit keinem Wort Adam Quadroni «wegzusperren». Er weist die Hausärztin lediglich auf die Befürchtungen im Gutachten hin und verlangt von ihr, die dort empfohlenen «Vorbereitungsmassnahmen» zu treffen. Nicht mehr und nicht weniger. Es stand ja im Ermessen der Hausärztin, auch bloss ein Gespräch mit Herrn Quadroni zu führen, und sie hätte ja auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie Graubünden anrufen können, um Näheres zu erfahren, anstatt nun im Nachhinein den Richter zu verunglimpfen und ihm sogar zu unterstellen, er habe Adam Quadroni über Weihnachten «versorgen» wollen. Es scheint mir unglaublich, dass eine Hausärztin dieses Schreiben mit intimen Ausführungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Fernsehen publizieren liess. Zur Aufdeckung der Wahrheit hilft es nun aber, zum Glück.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Adam Quadroni heute?
Ich habe ihn letztmals vor ein paar Monaten getroffen und spontan zum Kaffee eingeladen. Ich wollte dabei ungerechtfertigte Vorwürfe, die er selbst gegen mich verbreitet hatte, bereinigen. Ich grenze ihn ja nicht aus und hatte ihn letztes Jahr sogar zu einem Interview mit der «Republik» eingeladen. Selbst beim Interview des Schweizer Fernsehens wollte ich zusammen mit ihm vor die Kamera treten. Beide Male waren die Journalistinnen einverstanden, fragten ihn, aber er sagte dann beide Male kurzfristig ab. Da frage ich mich langsam schon, wovon er sich denn fürchtet, wenn er sich, wie ich, der Wahrheit verpflichtet fühlt.

Es wird ein zweiter PUK-Bericht folgen. Müssen sich vor diesem viele Amtspersonen fürchten?
Das kann ich nicht beurteilen. Es geht dort vor allem auch um die Verfahrensabläufe im kantonalen Tiefbauamt zwischen 2004 und 2012. Dieser Aufklärungsarbeit haben sich neben der PUK auch zwei Professoren der Universität Freiburg angenommen, und ich selbst habe auch vor ihnen ausgesagt. Es nimmt mich Wunder, wie die Leute des Tiefbauamts ihre Nichtreaktion begründen. Andererseits bin ich überzeugt, dass sich unsere Gemeindebehörden nicht haben bestechen lassen. Das, was im Unterengadin passiert ist, ist sicher in vielen anderen Regionen der Schweiz gleich abgelaufen. Wir sind ins Rampenlicht geraten, weil beim Whistlebower Eheprobleme durch Polizeieinsätze entstanden sind und es für gewisse Medienschaffende ein gefundenes Fressen war, darin Zusammenhänge zu sehen, um das Bild einer völlig korrupten Region zu zeichnen.

Die PUK ist zum Schluss gekommen, dass zwischen den Polizeieinsätzen und dem Kartell kein Zusammenhang besteht?
Ja, und ich bin froh, dass die PUK in ihrem Bericht klar festhält, dass sie keinen Zusammenhang zwischen den Kartellabsprachen und dem Umgang der Behörden mit Adam Quadroni feststellen konnte. Gewisse Medien bis hinauf zum Schweizer Fernsehen halten aber dieses unwahre Rachebild trotzdem aufrecht. Die Folge davon sind Gästestornierungen in Hotels bis hin zu Morddrohungen an den Gerichtspräsidenten. Es ist unglaublich, was für einen Schaden ein paar Baumeister mit ihrem Baukartell angerichtet haben. Dieses Interview soll zur Wahrheit beitragen, damit unsere Region nicht weiteren Schaden erleidet. Unsere Bevölkerung hat das einfach nicht verdient.

* Not Carl ist heute 70-jährig und hatte ein eigenes Anwaltsbüro in Scuol. Von 1983 bis 1998 war er Gemeindepräsident von Scuol, von 1978 bis 1998 war er Grossrat, 1994 wurde er als Standespräsident zum höchsten Bündner gewählt. Er war Kantonsrichter, und seit 2011 ist er Richter am Regionalgericht Engiadina Bassa/Val Müstair.

Interview: Reto Stifel

Foto: Jon Duschletta