Die politische Landschaft in der Schweiz ist seit längerer Zeit schon im Umbruch. Etablierte Parteien verlieren an Bedeutung, Parteilose erobern zunehmend politische Ämter und Bewegungen wie Operation Libero bringen sich stark in politische Sachfragen ein und setzen wesentliche Akzente in Abstimmungsfragen.
Dieser neue Wind war 2018 auch bei den Gesamterneuerungswahlen der St. Moritzer Gemeindebehörde zu spüren. Im Sog der Kandidatur des damals 40-jährigen politischen Quereinsteigers Christian Jott Jenny wurde die Politik bei den Jungen zum Thema. Sie überraschten im Wahlkampf mit witzigen Aktionen, organisierten unkonventionelle Podiumsdiskussionen, vor allem aber kandidierten sie für ein politisches Amt. Nicht nur Parteilose notabene, auch die konventionellen Parteien setzten auf Junge, einige wurden auch gewählt. Trotzdem greift die EP/PL in der Schwerpunktwoche das Thema «Junge in der Politik» am Beispiel der Gruppierung next generation auf. Der Vorwurf, die Jugend in der Schweiz sei an der Politik nicht interessiert, wird in einer Erhebung des easyvote-Politikmonitors 2017 zumindest teilweise wiederlegt. Befragt wurden die Jugendlichen aus der Sek.-II-Stufe von der gfs.bern im Auftrag des Dachverbandes Schweizer Jugendparlamente. Dabei zeigte sich, dass 46 Prozent der 15- bis 25-Jährigen «eher oder sehr» an der Politik interessiert ist und immerhin 43 Prozent gaben an, mindestens teilweise politisch engagiert zu sein.

Samen pflanzen, die Früchte tragen
Zu den politisch Engagierten gehören spätestens seit dem 1. Januar 2019 und ihrer Wahl in den St. Moritzer Gemeinderat auch Claudia Aerni, Tanja Kreis und Nicolas Hauser. Mit ihren 33 Jahren zwar auch nicht mehr ganz jung, aber trotzdem vertreten sie im St. Moritzer Parlament die Jugend. «next generation» nennt sich ihre Gruppierung und der Name ist Programm: Sie wollen die nächste, die jüngere Generation repräsentieren, mit neuen, frischen Ideen, sie wollen Schwung in den Politikalltag bringen, verkrustete Strukturen aufreissen, Altes neu denken, etwas bewegen, die Zukunft aktiv mitgestalten. «Ich habe mir gewünscht, Impulse setzen zu können, Richtungen vorzugeben, Samen zu pflanzen, die irgendwann einmal Früchte tragen», beschreibt Claudia Aerni ihre damalige Motivation zu kandidieren. Nicolas Hauser sah diese Welle mit den jungen Kandidaten und er wollte mitsurfen. «Zusammen mit den Jungen etwas zu erreichen, das war meine Motivation mitzumachen.» Ohne Erwartungen stürzte sich Tanja Kreis in das Abenteuer Gemeindepolitik. «Erwartungen haben finde ich nicht gut. Die Wahrheit ist, dass das was passieren muss, passieren wird. Ob ich das nun will oder nicht», sagt sie. Wenn schon keine Erwartungen: Gewünscht hat sie sich mit ihrer Wahl eine Stimme der jungen, parteilosen Generation in den Rat zu bringen und soziale sowie ökologische Themen in St. Moritz voranzutreiben.

«Der Enthusiasmus hat sich gelegt»
Bald ist die erste Hälfte der vierjährigen Legislatur vorbei. Nach rund 20 Sitzungen des Gemeinderates, vielen Kommissionssitzungen und etlichen Stunden Aktenstudium ist es Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Was hat sich erfüllt, was nicht? Was wurde erreicht, wo sind die Jungpolitiker gescheitert und entsprechend enttäuscht?
Die Antworten von Aerni, Kreis und Hauser fallen erstaunlich heterogen aus. In drei Sätzen zusammengefasst: Erstens: Die politischen Mühlen sind sehr langsam, politische Prozesses brauchen vor allem eines: Geduld. Zweitens: Die Partizipation von aussen ist kaum zu spüren, Anliegen der jungen Generation, die die next generation im Rat eigentlich vertreten möchte, werden kaum eingebracht, was zur dritten Erkenntnis führt, die Nicolas Hauser so formuliert: «Der Enthusiasmus aus dem Wahljahr 2018 hat sich schnell wieder gelegt und die vielen jungen Interessierten sind nicht mehr präsent.» Das findet Tanja Kreis schade. Denn sie sieht sich als Vertreterin des Volkes, speziell der jungen Generation. «In diesem Punkt hatte ich tatsächlich Erwartungen: Ich habe gedacht, es würden mehr Personen mit Anliegen auf uns zukommen.» Auch Claudia Aerni würde sicht mehr Partizipation der Jungen wünschen. «Wenn dieser Austausch fehlt, können wir Jungpolitiker einfach nach bestem Wissen und Gewissen handeln und hoffen, dass das, was dabei rauskommt, zur positiven Entwicklung von St. Moritz beiträgt», sagt sie.

Der andere Blickwinkel
Trotz Rückschlägen und Enttäuschungen: Die Jungpolitiker haben auch positive Erfahrungen gemacht. Sie haben persönlich viel gelernt, haben die politischen Abläufe kennengelernt und in viele Dossiers Einblicke erhalten. Sie bringen sich in den Diskussionen engagiert ein. «Wir haben gemerkt, dass es sehr gut ist, den Blickwinkel unserer Generation im Gremium zu vertreten», sagt Claudia Aerni. Auf die Frage, was denn junge Politiker besser können als die altgedienten Politfüchse sagt sie: «Nichts. Aber wir sind uns nicht zu schade, viele Fragen zu stellen und Abläufe, Geschäfte und Entscheide kritisch zu hinterfragen.» Auch Tanja Kreis will nichts wissen von einem besser oder schlechter. «Heute braucht es in der Politik unabhängig vom Alter ein offenes Denken, die Unbefangenheit, das Miteinanderdenken und Mut. Alles Voraussetzungen, die wir von der next generation sicher mitbringen.» Nicolas Hauser denkt, dass die jungen Politiker per se mutiger sind und weniger konservativ denken. «Das braucht es auch. Wenn St. Moritz weiterkommen will, müssen wir auch mal was riskieren», ist er überzeugt.

Mehr Engagement wird gewünscht
Zum Schluss des Gesprächs sind sich Aerni, Kreis und Hauser dann wieder zu 100 Prozent einig: Ja, es braucht junge Politikerinnen und Politiker in den Gemeindegremien. Und sie wünschen sich unisono, dass in zwei Jahren möglichst viele ihrem Beispiel folgen werden und kandidieren, auch wenn es viel Zeit und Energie benötige. «Das gilt aber nicht nur für die Politik. Es braucht generell mehr Partizipation am St. Moritzer Dorfleben, sagt sie und macht gleich noch einen Aufruf: «Wir können vieles unterstützen und die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, damit das Leben in St. Moritz auch jungen Menschen Spass macht und eine Zukunftsperspektive bietet. Meldet euch mit Fragen und Ideen.»

In die Politik, weil er nicht ernst genommen wurde
Der 19-jährige Corsin Häfner weiss noch genau, was ihn motiviert hat, in der Gemeindepolitik Fuss zu fassen: An einer Gemeindeversammlung stellte er Fragen zu den Finanzkennzahlen, konkret zum Eigenfinanzierungsgrad. «Ich spürte, dass ich mit meinen Fragen nicht ernst genommen wurde und fühlte mich wie ein kleines Kind behandelt». «So nicht», sagte sich Häfner und kandidierte im September gleich fürs Gemeindepräsidium in Valsot. Zwar gelang es ihm nicht, den amtierenden Gemeindepräsidenten Victor Peer zu schlagen.
Doch Häfner erhielt einen Drittel der Stimmen – mehr als ein Achtungserfolg. «Ich war sehr zufrieden mit dem Resultat und habe sowohl vom wiedergewählten Gemeindepräsidenten wie auch von vielen Stimmbürgern Lob erhalten. Das hat mir gezeigt, dass ich auch eine Stimme habe und gehört werde», sagt Häfner rückblickend.
Persönlich ist er überzeugt, dass junge Menschen in der Politik andere Lösungsansätze haben. Ansätze, die versuchten, mit modernen Mitteln wie dem Internet und der Technik den «Werkzeugkasten» der Gemeinde zu vergrössern und so neue Lösungen zu finden.
Auch wenn der erste Versuch in die Gemeindepolitik einzusteigen nicht von Erfolg gekrönt war; entmutigen lässt sich Häfner dadurch nicht. Er kann sich gut vorstellen, in vier Jahren einen neuen Anlauf zu nehmen. Zuerst allerdings steht das Militär und dann das Studium auf dem Programm.

Autor: Reto Stifel

Fotos: Henry Schulz