In diesem Fall lügt die Statistik nicht: Die Fischfänge in den vier Oberengadiner Talseen (Silser-, Silvaplaner-, Champfèrer- und St. Moritzersee) sind in den letzten Jahren massiv zurückgegangen. Zwischen 2002 und 2006 wurden im Schnitt pro Saison knapp 50 000 Fische aus dem See gezogen, mit 64 328 in der Fangstatistik aufgeführten Fischen im absoluten Rekordjahr 2004. Ein Jahr später dann die Zäsur mit noch gut 28 000 Fängen und dann der kontinuierliche Rückgang auf den tiefsten Wert im vergangenen Jahr, wo die Fischerinnen und Fischer noch 5589 Fische in die Statistik eintragen konnten. Weil die Fischerei auf den Seen vor allem vom Boot aus und dort primär auf den Seesaibling erfolgt, machte in den letzten Jahren in Fischereikreisen das Wort «Seesaiblingkrise» die Runde. Und es stellten sich verschiedene Fragen. Hat es tatsächlich weniger Fische im See oder lassen sich diese beispielsweise aufgrund eines veränderten Fressverhaltens weniger gut fangen? Haben sich die Reproduktionsverhältnisse in den Seen verschlechtert? Oder ist das Nahrungsangebot deutlich zurückgegangen? Fragen, denen das Amt für Natur und Umwelt und das Amt für Jagd und Fischerei (AJF) seit 2014 auf den Grund geht. Mit einem limnologischen Monitoring wird die Situation in den Seen regelmässig untersucht.

Starker Rückgang von Phosphor
Ein erster Zwischenbericht ist 2017 veröffentlicht worden. Im Zentrum stand damals neben den chemisch-physikalischen Messungen auch das Plankton, welches die Nahrungsgrundlage für viele Fische darstellt. Festgestellt wurde im Bericht, dass die Phosphor-Konzentrationen in allen Seen zwischen 1960 und 2016 deutlich zurückgegangen ist, einhergehend mit einer Abnahme der Planktonbiomasse. «Die rückläufigen Fangerträge decken sich somit mit den abnehmenden Phosphor- und Chlorophyllkonzentrationen in den letzten 25 Jahren», lautete damals das Fazit.

Gesund, aber auf Diät
Eine Feststellung, die in einem kürzlich veröffentlichten zweiten Bericht über das Nahrungsangebot in den vier Talseen bestätigt wird. Vereinfacht gesagt kann man feststellen, dass die Oberengadiner Talseen sauberer geworden sind, was in einem rückläufigen Nahrungsangebot und letztlich in tieferen Fangzahlen mündet. Oder wie es Fischereibiologe Marcel Michel vom AJF sagt: «Die Basis der Nahrungskette, die Nährstoffe, sind geringer geworden.» Folglich gebe es weniger Primärproduzenten (Phytoplankton), weniger Primärkonsumenten (Zooplankton) und somit weniger Sekundär- und Tertiärkonsumenten, also Fische. «Die Fische sind gesund, aber auf Diät gesetzt», folgerte Michel in einer kürzlich erschienen Ausgabe des «Bündner Fischers.»
Die Vermutung, dass früher ein höherer Nährstoffgehalt in den Seen zu mehr Fischen führte, liegt gemäss Michel auf der Hand. Diesbezüglich würden sich die Oberengadiner Seen nicht von anderen Gewässern in der Schweiz unterscheiden. Allerdings sei der Vergleich «früher–heute» schwierig, da bezüglich den Nährstoffgehalten kaum Daten aus der Vergangenheit vorliegen würden.

Zusätzliches Phosphor verbannt
Phosphorverbindungen kommen in Gewässern auch auf natürliche Weise vor und sind ein essentieller Nährstoff für die Entwicklung von Pflanzen. «Ohne Phosphor kein Leben», könnte man etwas plakativ sagen», so Michel. Zuviel davon könne aber das Gleichgewicht in der Nahrungskette stören. Früher geschah dieser zusätzliche Eintrag in die Gewässer vor allem über die Abwässer aus den Haushaltungen – und dort vor allem über Waschmittelzusätze – und über die Landwirtschaft. Der flächendeckende Bau von Abwasserreinigungsanlagen in der Schweiz hat dazu geführt, dass durch die häuslichen und industriellen Abwässer keine massgebende Zusatzbelastung der Gewässer mit Phosphor erfolgt.
«Einer der grössten Erfolge des qualitativen Gewässerschutzes in der Schweiz», sagt Michel.

Der neue Normalzustand
Der heutige Zustand entspricht also wieder vielmehr dem Idealwert eines natürlichen Gewässers. Das bedeutet aber auch, dass sich die Fischerinnen und Fischer an die Fangzahlen gewöhnen müssen, wie sie in den letzten fünf Jahren erreicht worden sind – gut 6000 Stück pro Jahr also. Gemäss den Resultaten aus der Studie wurde unter Anwendung verschiedener Berechnungsmodelle auf Basis des Nährstoffgehaltes von einem theoretisch nutzbaren Fischbestand von sechs bis sieben Kilo pro Hektar und Jahr ausgegangen. Das zeigt auch, dass die Fangerträge früherer Spitzenjahre mit bis zu 25 Kilo pro Hektar und Jahr wohl zu hoch waren.
Doch die Biomasse an Fischen ist nur das eine. Das andere ist die Zusammensetzung des Fischbestandes. Und da interessiert Michel auch die Frage, warum es heute weniger Seesaiblinge und Forellen, dafür aber mehr Namaycush und Äschen in den Seen hat. «Hat die Zunahme der einen Arten auch mit der Abnahme der anderen Arten zu tun?», fragt er sich. Mit Netzbefischungen und teils Echolotaufnahmen möchte das AJF mehr Klarheit erhalten. «Dies jedoch eher mit einem eher rudimentären Ansatz. Wir sind keine Forschungseinrichtung», gibt er zu bedenken.
Details zu den Berichten der Firma Limnex AG gibt es auf: www.jagd-fischerei.gr.ch

Autor und Foto: Reto Stifel