«Über etwas zu philosophieren», sagt Rolf Gremlich gleich nach der Begrüssung am Bahnsteig in Zernez «geht eigentlich nur bei einem guten Tropfen.»
Auf dem Vorplatz des nahen Bahnhöflis stehen ein paar Holztische und Stühle, die, geputzt und gebürstet, an der Sonne darauf warten, an ihren angestammten Platz auf der Terrasse zurückgestellt zu werden. Zwei Minuten später sitzen wir mit zwei Weinschwenkern vor einem entkorkten 2015-er Mas de Boislauzon, Châteauneuf-du-Pape, den Gremlich aus einer Umhängetasche gezaubert und vor sich auf den Tisch gestellt hat, und schon mitten in einem der Kernthemas der Pandemie, dem Verzicht.
Rolf Gremlich lebt in Samedan, ist Lokomotivführer bei der Rhätischen Bahn, Sekretär und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung der Weinfreunde ANAV und stand bis 2017 den Weinfreunden Engadin immerhin 27 Jahre lang als Präsident vor. Über Jahre hat er im Oberengadin auch einen Philosophen-Stamm mitorganisiert und mitgestaltet. Diesen Herbst lässt sich Gremlich mit dannzumal 63 Jahren frühpensionieren. Verzichten, um zu gewinnen, wie er sagt.

Kein Verzicht, aber Güterabwägung
Verzicht kommt auch in einem aktuellen, auf der Internetseite philosophie.ch veröffentlichten Blog des promovierten Philosophen und freien Wissenschaftlers Björn Freter aus Knoxville, Tennessee, zur Sprache. Unter dem Titel «Schande und Chance in Zeiten der Covid-19-Pandemie», stellt Freter die These auf, dass die Menschen in der Corona-Quarantäne eben gar nicht verzichten, weil dass, was sie, ob verordnet oder freiwillig in dieser Krisenzeit tun, kein Verzicht ist, sondern eine Güterabwägung: «Wir halten einfach das Gut der Gesundheit für wertvoller als andere», so Björn Freter. In seinem Blog zeigt er weiter auf, wie sehr das einzelne Individuum sein Leben verändern kann, wenn es nicht mehr um weit entfernte Probleme, um Krieg und Elend oder humanitäre Katastrophen, sondern plötzlich um die ureigene Gesundheit geht.
Rolf Gremlich sagt: «Dieser Text Freters hat mich dazu verleitet, über unsere Gesellschaft nachzudenken. Darüber, wie einfach wir es uns machen, indem wir beispielsweise unsere gefährlichen Abfälle – trotz Ratifizierung des Balser Abkommens — lieber illegal im fernen Ausland, als sie im eigenen Land und unter kontrollierten Bedingungen zu entsorgen. Aus den Augen, aus dem Sinn.» Egoismus und Individualismus, daraus abgeleitet aber auch Eigennutz und Nächstenliebe oder auch die Frage nach einer möglichst gerechten Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen, sind weitere menschliche Eigenschaften und Themen, die Gremlich antreiben. «Die Gesellschaft verhält sich vielerorts in einer Art gesundem Egoismus», sinniert er, «nur, wenn es uns selber gutgeht, können wir auch zum Wohle anderer schauen.» Also Eigenschutz, so wie krisenbedingt vom Bundesrat verordnet? «Ja, sich selber schützen, damit man anderen helfen kann.» Als rein egoistisch kritisiert Rolf Gremlich aber im gleichen Atemzug den hinausgezögerten Entscheid des nationalen Parlaments in Sachen Mieterlass für Geschäftsräumlichkeiten. «Vor allem, wenn man sich vor Augen hält, wie solche Lokalitäten oft über Jahre hinweg leer stehen.

Umdenken ist unumgänglich
«Themen wie Individualismus oder Selbstverwirklichung müssen aktuell neu interpretiert und definiert werden», so Gremlich, «Gerade in Bezug auf individuelle, persönliche Freiheit muss in der Gesellschaft ein Umdenken stattfinden. Nicht zuletzt, weil der Zustand bis zu einem einstigen Normalzustand noch lange andauern könnte, – sofern dieser überhaupt jemals wieder eintrifft.»
Es werde interessant zu beobachten sein, wie solche Themen von Björn Freter und anderen zeitgenössischen Philosophen aufgenommen, interpretiert und weitergedacht würden, so Gremlich, seines Zeichens Laienphilosoph. «Diese Krise wird sicher auch das philosophische Denken beeinflussen und neue Denkmodelle hervorbringen.»
Rolf Gremlich schenkt nach und sagt nachdenklich: «Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass der Mensch vergesslich ist. Nach dem zweiten Weltkrieg hiess es überall, nie wieder Krieg.» Aber Kriege und bewaffnete Konflikte gab und gibt es doch weiterhin? «Natürlich, aber nicht hier bei uns, sondern meist weit weg und deshalb oft ausserhalb unseres Bewusstseins. Es betrifft uns nicht direkt.»
Gedanken zu Betroffenheit und Verzicht, welche gerade in diesen Tagen, wo das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren medial ausgeschlachtet wird, vielen wieder ins Bewusstsein rücken dürften. Im Gespräch wird man sich schnell darüber einig, dass bei allem Respekt vor den wirtschaftlichen und gesundheitlichen Opfern der Corona-Pandemie der Versuch, die aktuelle Betroffenheit, die akute Gefährdung und den daraus erwachsenen Verzicht mit der Situation der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen vergleichen zu wollen, kläglich scheitern müsse. Krisen, und auch das ist keine neue Erkenntnis, hinterlassen immer beides, Verlierer und Gewinner. Es scheint aber nun mal so, dass ein Grossteil der Gesellschaft hierzulande heute mehr zu verlieren hat als sämtliche Vorgängergenerationen zuvor, nämlich Wohlstand. Der kräftige Rotwein entfaltet Wirkung und das Zwiegespräch immer mehr Themen und Fragen. Beispielsweise nach dem Wert von Freiheit und Sicherheit, um neue Achtsamkeit und liebgewonnene Entschleunigung, um Verzicht auf Liebgewonnenes und Gewohntes oder auch um neue, kreative Ideen, welche wohl nur eine einschneidende Krise überhaupt hervorbringen können.
Zurück bleibt eine halbleere Flasche und die Ungewissheit darüber, ob oder wie schnell die nun begonnene Lockerung der Einschränkungen in unserer mobilen Konsum- und Spassgesellschaft zu einer trotzigen Jetzt-erst-recht-Haltung, zu einer allzu schnellen Rückkehr zum Vor-Krisen-Modus und damit vielleicht gar zu einer zweiten Pandemiewelle führen wird?

Das Gespräch wurde am 8. Mai, noch vor der teilweisen Lockerung der Corona-Massnahmen geführt.

Autor und Foto: Jon Duschletta