«Eine Kultur der Wertschätzung pflegen», steht einleitend in der Präambel zum Leitbild der Evangelisch-refor-mierten Kirchgemeinde Oberengadin «refurmo.» Und auf diesen Satz bezog sich Roberto Rivola, der als Externer den zweiten Teil der Kirchgemeindeversammlung vom Dienstag moderierte. Rivola wünschte sich eine konstruktive Diskussion im Sinne der Sache und keine persönlichen Anschuldigungen. Der Vorstand von «refurmo» hatte sich entschieden, die Kirchgemeindeversammlung vom 25. Mai in zwei Teile zu gliedern und die Mitglieder im zweiten Teil in einem «offenen und konstruktiven Gespräch» zu Wort kommen zu lassen. Dies aufgrund der Vorwürfe an den Vorstand, welche in den letzten Monaten immer lauter geworden waren (die EP/PL hat mehrfach darüber berichtet).

Die Diskussion verlief grösstenteils sachlich, allerdings kratzte sie aufgrund der weit fortgeschrittenen Zeit nur an der Oberfläche. Gemäss Kirchgemeindepräsident Gian Duri Ratti hätte der Meinungsaustausch bereits früher stattfinden sollen, sei aber, wie so vieles, der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. So zum Beispiel auch die Retraite mit dem Vorstand und dem Konvent (Pfarrpersonen und Sozialdiakone), die nun am 5. Juni unter externer Begleitung stattfinden soll.

 

Potenzial noch nicht entfaltet

Etliche der Leute, die sich aus der Versammlung zu Wort meldeten, hatten in der einen oder anderen Form beim Zusammenschluss zur Kirchgemeinde Oberengadin mitgewirkt. Roman Bezzola beispielsweise, der seiner Hoffnung Ausdruck gab, dass das grosse Potenzial, welches «refumo» hat, doch noch ausgeschöpft werden kann. «Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir das Leitbild leben», sagte er. Enttäuscht zeigte sich Ursula Bolli. Enttäuscht darüber, dass die Vision einer Regionalkirche Oberengadin bis jetzt eher eine Illusion geblieben sei. Nicht verstehen kann sie das Fazit der Geschäftsprüfungskommission, die in ihrem Bericht zum Schluss gekommen war, dass die neuen Strukturen den Raum für individuelle Lösungen bei den Pfarrpersonen einschränken würden. «Gerade das Gegenteil sollte erreicht werden: Grössere Strukturen bieten mehr Möglichkeiten, auf die individuellen Fähigkeiten einzugehen.» Eine Votantin bemerkte, dass es aber auch gewisse Spielregeln gebe, an die sich die Angestellten zu halten hätten. Gemäss Bolli lag ein Fehler darin, dass der Übergang vom Projekt in die operative Tätigkeit zu wenig klar definiert wurde. «Leute aus der vorbereitenden Gruppe hätten die neuen Leute begleiten müssen.» Eine Begleitung, die gemäss Jon Manatschal angeboten worden sei, aber «rüde zurückgewiesen worden ist.»

 

«Nicht urteilen, verstehen»

Der Gedanke von Franziska Durband, dass wenn ein zukunftsweisender Prozess in Gang gebracht werden solle, zuerst die Gründe für die Personalabgänge in Erfahrung gebracht werden müssten, mündete in einen konkreten Antrag. Die Ursachen für die vielen Kündigungen sollen in nachträglichen Personalgesprächen eruiert werden. «Nicht um zu beurteilen oder zu verurteilen, sondern um zu verstehen», sagte Durband. Diese Gespräche müssen von externer Seite begleitet werden, die Schweigepflicht ist gemäss dem Antrag aufzuheben. Über die Resultate soll in einem anonymisierten Bericht bis spätestens zur nächsten Kirchgemein-deversammlung informiert werden. Ein Versammlungsteilnehmer äusserte sich skeptisch. Er warnte davor, die ganze Diskussion an den Kündigungen aufzuhängen. Die Versammlung sah das anders, sie hiess den Antrag mit grossem Mehr gut.

Gemäss Gian Duri Ratti will der Vorstand in einem ersten Schritt prüfen, wie sich der Antrag umsetzen lässt. Zudem soll ein zweiter Austausch mit den Kirchgemeindemitgliedern stattfin-den. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die pendente Revision der Kirchgemeindeordnung bis Ende Jahr abgeschlossen sein muss.

 

Personalsuche läuft

Ratti informierte weiter, dass die Besetzung der vakanten Pfarrstellen aktiv angegangen worden ist. Die Stelle für Pontresina/Celerina ist mit Thomas Maurer bereits besetzt worden. Für die Vakanz in Samedan finden in einer zweiten Runde nächstens Gespräche statt, und auch die Stelle von Urs Zangger, welcher das Oberengadin nach 25 Jahren Pfarrtätigkeit in Sils, Silvaplana und Champfèr verlässt, soll wieder durch eine Pfarrperson besetzt werden. Bis diese gefunden ist, übernimmt Helmut Heck die Stellvertretung. Urs Zangger zeigte sich berührt über das grosse Echo, das er und seine Familie nach der Bekanntgabe des Abgangs erhalten hätten. «Weitgehend durfte ich mit grossem Vertrauen arbeiten, und ich verlasse die Region, die zu meiner zweiten Heimat geworden ist, mit guten Gedanken», sagte er. Der offizielle Abschiedsgottesdienst findet am 18. Juli statt.

 

Der Weg zur Regionalkirche

Ein kurzer Rückblick: 2001 wurde «Il Binsaun» gegründet, eine Dachorganisation der Oberengadiner Kirchgemeinden. 2012 wurde festgestellt, dass dieses Modell eigentlich sehr gut funktioniert, aber die möglichen Synergien noch zu wenig genutzt werden. Aus fünf möglichen Zukunftsszenarien entschied sich die Präsidentenkonferenz für eine Regionalkirche Oberengadin. In einem vierjährigen Prozess erarbeiteten rund 40 Personen in verschiedenen Teilprojektgruppen ihre Konzepte, welche in einem Gesamtkonzept mündeten. 2016 stimmten alle acht Kirchgemeinden dem Zusammenschluss zu, Zuoz/Madulain erst im zweiten Anlauf. 

 

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg