Tief unter uns, am Ende des breiten Wanderwegs, verzehren Spaziergänger in bunten Windjacken ihren Proviant. Eine gute Stunde waren sie unterwegs, um einen Blick auf den legendären Morteratschgletscher werfen zu können. Doch alles, was sie zu sehen bekommen, sind dessen Rückstände an den Seiten des weiten, U-förmigen Tals. Der einst für seine Zugänglichkeit berühmte Gletscher hat sich hinter einen Felsrücken zurückgezogen. An den Spaziergängern vorbei fliesst nur noch das einstige Eis unter einer kleinen Holzbrücke hindurch und in schlangenförmiger Linie durch die beinahe flache Ebene. 

Zwei Stunden ist es her, seit ich einem der ältesten Bergführer Graubündens über diese Brücke gefolgt bin, vorbei an Schildern, die vor Steinschlag warnen. Das Wandern durch das Geröll war mühsam. Es ging langsam voran, und das nicht, weil Mathis Roffler bereits 83 Jahre alt ist. «Vor hundert Jahren war man vom Bahnhof Morteratsch in einer halben Stunde am Gletscher», erzählt er, heute dauere es nicht nur um einiges länger, es sei auch gefährlicher geworden.

Wie zum Beweis wird sich später direkt neben mir ein schwarzer Felsbrocken aus dem Eis lösen, während ich versuche, in eine Grotte aus Gletschereis zu gelangen. Vor zwei Jahren verletzte der Querschläger eines Steinschlags das Kind eines belgischen Paares tödlich am Kopf. Absperrungen gibt es trotzdem keine. Es würde nur die Illusion erzeugen, dass es diesseits der Absperrungen sicher sei.

 

Das Stolpern verlernt

Langsam entfernen wir uns von den Warnschildern. Jeder von Mathis’ Schritten ist standfest, auch wenn der Schnee mal unter seinen Sohlen unerwartet einbricht. Stolpern hat der Mann schon vor langer Zeit verlernt. Seit über 58 Jahren führt Mathis Roffler Gäste durch das Gebirge. «Entscheidend für den Erfolg eines Bergführers ist, dass er einmalige Naturerlebnisse bescheren kann. Das ist heute wie früher so», sagt er. Wir stehen inzwischen an der Zunge des Gletschers, der vom 4000 Meter hohen Berninamassiv gegen das Tal fliesst und sich direkt über uns aufbäumt. «Schau, eine Höhle», sagt Mathis und zeigt auf ein klaffendes Loch im Eis.

Vor hundert Jahren, viel weiter unten in der Val Morteratsch, wurden solche Eishöhlen für Touristen eigens ausgeleuchtet. Im Museum Alpin in Pontresina zeugt ein Schwarzweissfoto davon. Mathis Roffler ist Ehrenmitglied des Museums, einen neuen Eispickel haben sie ihm aus diesem Anlass geschenkt. «Er ist ein wandelndes Lexikon», lobt die Leiterin des Museums Annemarie Brülisauer und ergänzt: «Sehr engagiert ist er auch. Vor 50 Jahren haben Bergführer aus Pontresina beschlossen, dieses Museum zu gründen. Und es war Mathis, der ein passendes Haus organisiert hat, sodass das Museum 1986 eröffnen konnte.»

Das wandelnde Lexikon Mathis lässt seinen Blick über den Eingang der Eisgrotte schweifen, in seiner rechten Hand den Eispickel aus hellem Holz. Er rät mir, die Grotte von der Seite und mit stetem Blick nach oben zu betreten. Ich tue, wie mir geraten, als tatsächlich ein fussballgrosser Felsbrocken von der schmelzenden Schneedecke herunter donnert und einen Meter links von mir liegen bleibt.

 

Eingefrorene Felsbrocken

Eine Schrecksekunde später stehe ich in einer zehn Meter breiten und zwanzig Meter tief ins Eis reichenden Grotte aus diamantblauem Eis. Drei Meter über mir warten weitere eingefrorene Felsbrocken darauf, freigeschmolzen zu werden. Weiter hinten höre ich den Bach unter dem Gletscher rauschen. Und vorne am Ausgang steht Mathis, der mich nicht aus den Augen lässt. «Manchmal gibt der Gletscher die sterblichen Überreste jahrelang Vermisster frei», erzählt er mir später auf dem Rückweg.

Wir kehren um, die Tage sind kurz im Spätherbst. Vorbei an Spaziergängern in bunten Windjacken wandern wir bald hindurch zwischen ersten Büschen, dann Bäumchen und schliesslich Bäumen. Links am Wegesrand steht ein Pfahl mit der Aufschrift «1970» gegen den Himmel. Der Pfahl markiert das Ende des Gletschers im Jahr 1970. Nur ein Jahr später feierte damals der Bergführerverein von Pont-resina sein 100-jähriges Jubiläum. «Das ganze Dorf hat an unserem Umzug mitgemacht», erinnert sich Mathis. Er selbst, 33 Jahre alt, marschierte mit der uralten, graublauen Vereinsfahne voran. «Damals hat man gemerkt, dass die Führer geschätzt werden. Weil sie mit den Leuten anständig umgehen» sagt er.

 

Ein Steinmann für die Verschollenen

Zwischen mehreren vom Gletschereis hinabgewälzten und glatt geschliffenen Felsbrocken taucht auf einmal ein kleines Kreuz in der Mittagssonne auf. Ein tschechischer Name steht auf der Plakette, 2012, umgekommen am Piz Bernina. Mathis scheint erstaunt. «Das kann dort nicht bleiben» sagt er kopfschüttelnd.

Fast jedes Jahr stürzen Menschen im Berninagebiet zu Tode. Manche werden nie gefunden. «Wenn für jeden, der hier verunglückt, etwas im Val Morteratsch aufgestellt würde, wäre das Tal bis zuhinterst ein Friedhof» erklärt der Bergführer. Auf dem Friedhof in Pont-resina steht deshalb ein stilisierter Steinmann. Dies sei der richtige Ort, der verschollenen Bergsteiger zu gedenken.

Hundert Meter unterhalb des Friedhofs in Pontresina bereitet Annemarie Brülisauer im Museum gerade die Sonderausstellung für das 150-jährige Jubiläum des Bergführervereins vor. Dort wird auch ein Zusammenschnitt alter Filmaufnahmen zu sehen sein, darunter jener mit dem 33-jährigen Mathis und der uralten, graublauen Vereinsfahne.

«Schau mal, wie hoch diese Bäume in 60 Jahren wachsen» sagt Mathis wieder ein Stück weiter unten im Tal und zeigt auf die Wipfel. Viele der Spaziergänger, die zu recht später Stunde noch in Richtung Gletscher wandern, sind nicht einmal halb so alt wie diese Lärchen und Arven. «Früher wären die vielleicht in die Karibik gefahren, nun kommen sie nach Pontresina, um den Morteratsch zu sehen, um hier zu wandern oder zu klettern», sagt Mathis und freut sich.

Ob der Gletscher eine Zukunft hat, ist mehr als ungewiss. Die Bergführer von Pontresina aber, die ihre 150 Jahre feiern, sie haben eine Zukunft.

 

Autor: Giona-Andrea Gianelli

Gion-Andrea Gianelli hat Politik und Geschichte in Zürich und Lausanne studiert und arbeitet zurzeit als Filmschaffender und Kampagnenmitarbeiter in Zürich. In seiner Freizeit klettert er gerne und fährt im Winter viel Ski. Das Porträt über Mathis Roffler ist im vergangenen Herbst im Rahmen des Reportage-Kurses von Peter Linden in St. Moritz entstanden. 

 

Foto: Annika Veclani