Ursprünglich hatte Urs Zangger Crest’Alta als Treffpunkt für das Gespräch vorgeschlagen, eine Erhebung am Lej Suot mit Blick auf Silvaplana. Nicht alle wissen, dass dort oben ein Bijou von einem Restaurant stand, 1870 durch den Architekten Ludovico Olgiatti erbaut, 1964 abgerissen. Wie sagt doch Zangger später im Gespräch: «Jedes Haus ist eigentlich ein Zelt. Weil es steht nicht für die Ewigkeit.» Und der Wind, der auf Crest’Alta so stark bläst, dass das Treffen letztlich im Chor der Kirche Santa Maria in Silvaplana stattfindet, bekommt im Gespräch eine ganz besondere Bedeutung. «Der Wind weht, wo er will», sagt er und betont das säuselnde «W». Das Gesprächsthema sind die offenen Kirchen, die Kirchen, die nicht für sich stehen dürfen und darauf warten, bis die Leute kommen und in einer vorgegebenen Struktur mitmachen. «Die Kirche lebt nicht von den Mauern. Sondern vom Wind, der durch sie weht.»

Urs Zangger spricht gerne in Bildern. Die Frage, was für einen Pfarrer wichtiger ist, das Reden als Prediger oder das Schweigen als Zuhörer, beantwortet er, in dem er Gegensätzliches verbindet, diplomatisch: «Es ist beides wichtig.» Trotzdem gibt es in seinem Selbstverständnis eine klare Reihenfolge. «Der Ausgangspunkt ist das Schweigen. Dort lerne ich zu hören.» Er kommt gerade aus einer Ausbildungswoche – im Schweigen – der Lassalle-Kontemplationsschule in der Propstei Wislikofen und hat unter anderem zwei Erfahrungen mitgenommen: Wie man plötzlich etwas zu sagen hat, wenn man schweigen kann. Und wie das Schweigen eine verdichtete Form von Gemeinschaft und Verbundenheit schaffen kann. 

Gemeinschaft und Verbundenheit: Das durfte er die letzten 25 Jahre als Pfarrer in Silvaplana, Sils und Champfèr immer wieder erfahren. 1996 ist er von Safien ins Oberengadin gekommen, um seine Stelle anzutreten. Als geschiedener Pfarrer, der in Silvaplana mit seiner Partnerin Madlen zusammenzog, einer Katholikin. «Ich werde nicht der Kirchgemeinde wegen heiraten und Madlen wird nicht konvertieren», hat er in seinem Bewerbungsschreiben klargemacht. Gewählt wurde er trotzdem: Ohne Gegenstimmen, mit zwei Enthaltungen. «Das war ein Wahnsinnsbeginn», erzählt er, als ob die Abstimmung erst gestern gewesen wäre. Sie zogen zusammen – hatten keine Vorhänge im Haus, was im Dorf ein Thema war – heirateten und waren durch die Geburt von Cilgia und Jelscha schon bald zu Viert. «Wir sind hier oben Familie geworden, darum bleibt das Engadin immer Heimat. Wir sind nie Einheimische geworden aber den Einheimischen sehr nahe gekommen.» 

Es ist nicht das einzige Mal im Gespräch, dass seine Stimme stockt. Er, der in den letzten 25 Jahren als Pfarrer, als Seelsorger und als Mitglied des Care Teams Grischun viel dazu beigetragen hat, dass Leute in sehr schwierigen Situationen wieder eine Struktur gefunden haben. Er, der Leute, die verstummt sind, wieder zum Reden geführt hat, schweigt. Er lässt seine Gefühle im Gespräch zu. Natürlich auch im Wissen, dass der nahende Abschied aus dem Oberengadin nie vergleichbar ist mit Schicksalsschlägen. Ihm ist wichtig zu unterscheiden zwischen verstummen und schweigen. Beim Verstummen reisst etwas ab, es verschlägt mir die Sprache oder mir wird die Sprache genommen. «Verstummen hat immer mit Gewalteinwirkung zu tun.»

Als er 1996 ins Engadin kam, waren die Dörfer noch Dörfer, die Traditionen wurden hochgehalten, der Stammtisch lebte. Doch der gesellschaftliche Wandel war auch hier zunehmend zu spüren, das Engadin kein Biotop. Das Miteinander der Generationen wurde abgelöst durch die Individualisierung der Gesellschaft. Heute stellt er eine gewisse Gegenbewegung fest, die ihn freut. Der Stammtisch in Silvaplana wird – auch dank der Beruhigung des Dorfkerns – neu erfunden. «Aber das dörfliche, so wie das Dorf Dorf war, ist es nicht mehr», sagt Zangger. Er will das nicht als Wertung verstanden wissen, sondern als Umschreibung – so wie er es wahrnimmt. 

In seinen ersten Jahren in Silvaplana gab es noch viele Erd-, heute fast nur noch Urnenbestattungen. Zum einen versteht er das, es entspricht der heutigen, schnelllebigen Zeit. Zum anderen führt es die Menschen aber auch weg vom konkreten Tod, vom Toten im Sarg. Als Pfarrer, der Trauernde begleitet, sieht er seine Aufgabe darin, aufzuzeigen, dass aus dem Ende ein neuer Weg entstehen kann. Dafür aber braucht es Zeit. Zeit, innezuhalten, eine Feier im Haus des Verstorbenen durchzuführen. Damit ein Leichnam, bei dem man den Menschen noch spürt, der mit einem in diesem Haus gelebt hat, nicht einfach als Ware behandelt wird wie die Kiste, die rasch aus dem Haus muss. 

Wie bei fast allen Tätigkeiten hat sich auch der Beruf des Pfarrers verändert. Die administrativen Aufgaben sind mehr geworden, Neues kommt hinzu, Bestehendes bleibt. Die Zeiträume der Arbeit werden enger, Zwischenräume werden wegrationalisiert durch das Zeitmanagement. «Da Platz zu finden für das Schweigen, auch mir selber zu überlegen, wie ich den Tag beginne, wie ich ihn unterbreche, wie ich ihn beende, wird immer schwieriger, ist aber enorm wichtig.» Und doch zeigt sich im Berufsbild des Pfarrers auch Konstanz. Bei den Kausalien oder dem Gottesdienst am Sonntag beispielsweise. Dass dieser von immer weniger Leuten besucht wird, weiss Urs Zangger. Die Frage, wie zeitgemäss dieses Angebot noch ist, kennt er. Er sieht im Sonntags-Gottesdienst ein Spartenangebot. Zu vergleichen mit dem Kulturprogramm von SRF 2. Eine wichtige Nische, die trotz wenig Publikum ihren festen Platz hat. 

Zangger ist überzeugt, dass der traditionelle Gottesdienst seinen Wert behält. «Wenn die Leute spüren, dass dieser mit Sorgfalt vorbereitet wird, strahlt das aus und es strahlt zurück.» Für ihn ganz wichtig: Der Gottesdienst am Sonntag lebt nicht nur von jenen, die in die Kirche gehen. Er hört immer wieder von Menschen, die das Sonntagsgeläut hören und wissen, die machen das auch für mich, stellvertretend für alle. «Alles was in der Kirche passiert ist Hingabe. Wir bleiben nicht bei uns stehen, wir leben nach aussen, wir drücken unsere Verbundenheit mit den anderen aus.» Urs Zangger erwähnt noch einen anderen Aspekt: «Ich spüre, ob in einer Kirche noch gefeiert wird oder nicht mehr. Eine Kirche hat diese gewisse Ausstrahlung oder sie hat sie nicht.»

Damit schliesst sich der Kreis zum Beginn des Gesprächs, zu den offenen Kirchen, zum Wind der durch die Kirchen weht und sie erst mit Leben erfüllt. Beim Milleniumswechsel wurde die Silser Dorfkirche, eine düstere Kirche mit eng verschraubten Kirchbänken und nur sonntags geöffnet, zur offenen Kirche. Zum Begegnungsort für alle und für vieles. Zangger spricht von der Öffnung des Raums, von den Kirchenräumen als Höhlen am Wegesrand, in die Leute mit ihren Geschichten reinkommen und die Kirche mit Geschichten wieder verlassen, um ihren Weg weiterzugehen. 

Auch Urs Zangger wird seinen Weg mit vielen Geschichten im Gepäck weitergehen. Ein Weg, der ihn ins bernische Nidau führt, wo er eine neue Stelle als Pfarrer antritt. In einer Grosskirchgemeinde mit den Orten Belmund, Ipsach, Port und Nidau. Als sein Abgang im Februar bekannt wurde, hat das viele Reaktionen ausgelöst. Persönliche Dankesworte, Wertschätzung sei es handgeschrieben, per Mail, WhatsApp, SMS oder auch gesprochen über Begegnungen oder das Telefon. «Was an Reaktionen gekommen ist, hat mich sehr gefreut, so etwas hätte ich nie erwartet», sagt er. Und häufig war es mehr als ein Dankeschön. Viele Leute haben ihm ihre Geschichte erzählt, in der sie Urs Zangger als persönlichen Wegbegleiter erleben durften. «Sie haben diese aufgeschrieben, mir in die Hände gegeben und gesagt, schau, das haben wir miteinander erlebt.» Diese Dankbarkeit zu spüren, das Vertrauen in seine Person, sei sehr berührend. «Für viele Leute war ich offenbar eine Figur von der man sich gesagt hat, ich habe ihn bis jetzt nicht gebraucht, aber wenn irgendeinmal etwas ist, dann weiss ich zu wem ich gehen kann.» So wie er 1996 in Silvaplana begonnen hat, ein Beziehungsnetz zu weben, wird das auch an seinem neuen Wirkungsort eine wichtige Aufgabe sein. Damit er als Vertrauensperson seinen Platz in der neuen Kirchgemeinde findet. Denn er weiss: «Das Amt trägt mich nur am Anfang, nachher trage ich das Amt.»

Das Thema Abschied steht während des Gesprächs wie der Elefant im Raum. Jetzt muss es angesprochen werden, auch wenn es Urs Zangger schwerfällt darüber zu sprechen. Er zitiert ein Bonmot, welches er mal für sich selber aufgeschrieben hat: «Wer nicht ist, was er ist, macht ein Wesen um sich. Und wer nicht weiss was er hat, verliert sich in seinem Gehabe.» Der Abschiedsgottesdienst von morgen Sonntag soll darum nicht der Moment sein für ein Gehabe und ein Wesen, das man daraus macht. Er blickt auf den kunstvoll angefertigten Taufstein, welcher seinen festen Platz im vorderen Teil des Chors hat, zitiert das romanische Motto «A favur da la vita», dem Leben zuliebe. «Natürlich ist es ein Abschied, der uns zusammenführen wird. Aber das Thema soll nicht der Abschied sein sondern das Leben im Abschied.» Im Mittelpunkt der Feier wird die Wertschätzung der gemeinsamen Geschichte stehen und nicht er als Person. Urs Zangger und seine Frau werden wieder ins Engadin kommen. Beruflich, weil er in diesem und im nächsten Jahr noch Hochzeiten hat, die bereits vor seiner Kündigung abgemacht waren. Und privat, weil er, der passionierte Kayakfahrer neben vielem die Oberengadiner See schätzen gelernt hat. «Ich werde nicht verstummen. Aber wir können auch nicht einfach so tun, als ob es weiterginge. «Es braucht einen Abschied, sonst kann ich am neuen Ort nicht ankommen.»

Autor und Foto: Reto Stifel