Frei von jeglichen ästhetischen Ansprüchen: Dies das Kriterium, nach welchem in unserem Haushalt seit Jahren der Weihnachtsbaum ausgewählt wird. So stand in diesem Jahr ein splitternacktes Lärchchen – ein Grotzli wie die Berner sagen – in der Stube. Dies sollte dank Wasser und Backpulver just zum Fest der Liebe einen zweiten Frühling erleben, mit wunderbar grünen Nadeln. Wie ich in der Kolumne kurz vor dem Weihnachtsfest geschrieben habe, drohte das Experiment in einem Desaster zu enden, Grotzli grünte nicht, nein, es war mittlerweile angegraut.
Immerhin, vier grüne Nadeln – einzeln und mit Lupe gezählt – zierten das geschmückte Bäumchen, als sich die Familie zum Weihnachtsfest besammelte. Ehrlicherweise muss ich sagen: So schlecht sah die mit farbigen Weihnachtskugeln geschmückte, nackte Lärche eigentlich gar nicht aus. Was dann folgte, war ein kleines Weihnachtswunder: Grotzli grünte, als ob es kein Morgen gäbe. Längst waren die Nadeln nicht mehr zu zählen, und während es draussen immer tiefer Winter wurde, war bei uns der Frühling eingekehrt. Kurz: Eine Metamorphose, welche an eine Textzeile aus Göläs Song «Schwan» erinnerte: «...die Gschicht verzeut vom graue Änteli u was es de schpäter isch gsi, ä Schwan so wiss wie Schnee, vergässe was isch gscheh.»
Und während all die teuren und trendigen Nordmanntannen von ihren Besitzern längst entsorgt worden waren, war Grotzli bis vor knapp einer Woche immer noch Teil der Familie. Bis zum dem Tag, als aus den Nadeln irgendwelche fliegenden und krabbelnden Insekten in unsere Wohnung ausschwärmten.
Das war das Ende von Grotzli. Jetzt liegt es bei seinen Kollegen auf dem Weihnachtsbaum-Friedhof. Doch im Gegensatz zu ihnen hat unser Grotzli etwas zu erzählen. Und: Wer schafft es als Weihnachtsbaum schon zwei Mal in die P.S.-Kolumne der Engadiner Post? Wenn das keine Leistung ist.

Autor und Foto: Reto Stifel
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