1919 wurde der Nationalrat zum ersten Mal per Proporz gewählt. Die Absicht damals: Die Sitze gerechter auf die Parteien zu verteilen und Minderheiten weniger stark zu benachteiligen. Ein Blick ins Heute zeigt: Die Rechnung ist aufgegangen. In der Grossen Kammer in Bern sind sechs grössere und vier kleinere Parteien vertreten. Der Frauenanteil liegt mittlerweile bei über 40 Prozent. Zum Vergleich: Im Kanton Graubünden ist dieser um rund ein Fünftel kleiner, deutlich tiefer auch als in anderen kantonalen Parlamenten.
Zwar sitzen im Bündner Grossen Rat auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus sechs Parteien. Allerdings widerspiegelt diese Zusammensetzung in keiner Art und Weise den jeweiligen Wähleranteil. Gemäss einer Auflistung von grwatch.ch beanspruchen die FDP, die CVP und die BDP im Grossen Rat heute 89 der 120 Sitze, was einem Anteil von 74 Prozent entspricht. Bei den letzten Nationalratswahlen 2019 haben diese drei Parteien allerdings nur 39 Prozent der Wählerstimmen erreicht.
Anlässlich der Debatte wurde von Vertretern der CVP immer wieder argumentiert, dass man ein einfaches, transparentes und vor allem bewährtes System nicht aufgeben dürfe. Vor dem Hintergrund der effektiven Verhältnisse läuft diese Argumentation aber ins Leere. Eine Erklärung zu diesem Missverhältnis war in der Debatte auf jeden Fall nicht zu hören.
Ja, der Doppelproporz ist komplizierter als der Majorz, und er bringt gewisse Nachteile mit sich. Trotzdem ist der Entscheid zugunsten dieses Wahlsystems aus mindestens drei Gründen richtig: Erstens bleibt dank dem Festhalten an den 39 Wahlkreisen die regionale Vielfalt erhalten. Zudem garantiert der Doppelproporz, dass jede Stimme gleich viel zählt und Minderheiten auch in kleineren Kreisen realistische Chancen auf einen Sitzgewinn erhalten. Das führt zweitens dazu, dass die politischen Meinungen der Bevölkerung im Grossen Rat ab dem Jahr 2023 besser abgebildet werden. Drittens schliesslich ist es eine Abkehr vom viel zitierten Bündner System «Köpfe statt Parteien.» Auch das ist richtig. Auswertungen des Abstimmungsverhaltens zeigen, dass die Fraktionsdisziplin im Bündner Grossen Rat sehr hoch ist. Die Vorstellung, dass ich eine lokale Persönlichkeit wähle, die ausschliesslich die regionalen Interessen in Chur vertritt, ist überholt. Ich wähle die Partei, von der ich überzeugt bin, dass sie meine Überzeugungen am besten vertritt. Selbstredend erwarte ich von den Gewählten, dass sie die Meinung ihrer Partei grossmehrheitlich mittragen. Und das schliesst nicht aus, dass sie sich auch für die regionalen Interessen starkmachen.
Parteien statt Köpfe dürfte es in Zukunft heissen. Sofern der Souverän das auch so sieht. Angesichts der Erfahrungen mit den letzten acht verlorenen Abstimmungen zum Proporz ist das alles andere als selbstverständlich. Bis zum 13. Juni muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. reto.stifel@engadinerpost.ch

Autor und Foto: Reto Stifel