Vor gut einer Woche hat der Bundesrat dargelegt, wie er den Exit aus dem zweiten Corona-Lockdown schaffen will. Mit behutsamen Schritten und gekoppelt an klare Kriterien, an denen die Landesregierung ihre Entscheide ausrichtet. Diese äusserst vorsichtige Strategie ist von den bürgerlichen Parteien, Wirtschaftsverbänden und vor allem auch von zahlreichen Kantonen kritisiert worden. Sie hätten sich raschere Öffnungsschritte gewünscht. Dass diese nun nicht kommen, überrascht. Der Druck auf den Bundesrat ist in den letzten Tagen stark gestiegen. Sein Festhalten am Weg der kleinen Schritte wird ihm erneut scharfe Kritik einbringen.

Zusammenhalt bröckelt
Viel mehr als das. Er riskiert, dass der innere Zusammenhalt dieses Landes weiter bröckelt. Zwischen den Polen der Pandemie-Leugner und jenen, denen die Einschränkungen nicht weit genug gehen können, gibt es nämlich die grosse Mehrheit der mehr oder weniger Gemässigten. Die Leute also, die die Massnahmen bisher mitgetragen haben, die diese aber zunehmend und in einem immer schärferen Ton infrage stellen. Das ist der gesellschaftliche Aspekt. Wirtschaftlich ächzen zunehmend mehr Unternehmen unter den Folgen des Lockdwons. Besonders hart trifft es die Gastrobranche. Gemäss den neuesten Daten der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich ist jeder zweite Betrieb in seiner Existenz gefährdet.
Nur schon die frühere Öffnung der Terrassen von Restaurants wäre ein kleiner, zumindest psychologischer Schritt auf dem Weg zurück in die Normalität gewesen. Den Gastgebern hätte es zwar keine wirtschaftliche Sicherheit, zumindest aber ein Stück Arbeitsalltag und Verdienst zurückgebracht. Den Gästen die Möglichkeit, sich ausserhalb der eigenen vier Wände wieder einmal mit anderen Leuten zu treffen, sich auszutauschen und das soziale Leben zu pflegen. Es wäre ein kleines Zückerchen gewesen, welches kurzfristig viel hätte bewirken können. Schade, dass der Bundesrat das anders sieht.

Fragile epidemiologische Lage
Viel weitergehende Öffnungsschritte sehr rasch umzusetzen und diese alleine mit dem Argument der Corona-Müdigkeit der Bevölkerung zu begründen, wäre aber auch der falsche Weg. Der überstürzte Ausstieg aus dem Lockdown im vergangenen Sommer ist Warnung genug. Zwar sind die Fallzahlen auf einem tieferen Niveau stabil. Bereits kursierende oder allenfalls neue Virusvarianten können aber zu einer raschen Verschlechterung der Situation führen. Die epidemiologische Lage ist und bleibt fragil. Dass diesem Aspekt bei der Abwägung der Gesamtsituation ein hohes Gewicht beigemessen wird, ist richtig. Voreilige Lockerungsschritte, die schlimmstenfalls in einem dritten Lockdown münden, dienen niemandem.

Perspektiven sind da
Keiner mag es mehr hören, und nach Monaten mit vielen Einschränkungen ist der Ruf nach mehr Freiheit absolut verständlich. Aber trotzdem braucht es nun noch einmal etwas Geduld und Durchhaltewillen, um mit besseren Perspektiven in die kommenden Monate zu gehen. Und die Aussichten stehen nicht schlecht. Erstens hat gerade der Kanton Graubünden mit seiner aktiven Teststrategie erfolgreich gezeigt, wie die Pandemie präventiv bekämpft werden kann. Zweitens dürften die Impfungen – nach den Startschwierigkeiten – in den kommenden Monaten mit ausreichenden Mengen an Impfstoff Fahrt aufnehmen, sodass die, die geimpft werden wollen – und das sind immer mehr – bis zum Sommer auch geimpft sind. Drittens schliesslich sind auch erste Erkenntnisse aus Ländern, welche bereits viele Impfungen durchgeführt haben, ermutigend. Sollte sich bestätigen, dass derjenige, der geimpft ist, Corona nicht weiter übertragen kann, wäre das ein grosser Schritt in Richtung «soziales Ende» der Pandemie, wie es kürzlich eine Medizinhistorikerin genannt hat. Die Krankheit ist zwar immer noch da, aber die Menschen lernen mit ihr umzugehen.

Vergleichsszenarien gibt es nicht
In den vergangenen Wochen und Monaten ist viel Kritik geübt worden an den Behörden im Umgang mit der Pandemie. Auch die gestern Mittwoch kommunizierten Beschlüsse werden – zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen – auf Ablehnung stossen. Sicher, es sind Fehler passiert, auch solche, die nicht hätten passieren dürfen. Es ist aber nicht so, dass bewusst falsche Entscheidungen getroffen worden wären, zum Schaden von irgendjemandem. Die Situation war und ist für alle neu, Vergleichsszenarien gibt es kaum. Es gibt die, die reden, kritisieren und fordern. Dann gibt es die, die Entscheide fällen müssen. Und drittens schliesslich muss für diese Entscheidungen jemand die Verantwortung tragen. Das sind verschiedene Paar Schuhe. Die, die am Schluss in der Verantwortung stehen, müssen eine schwierige Risikoabwägung vornehmen und sehr viele Faktoren berücksichtigen. Das darf in diesen schwierigen Zeiten nicht vergessen gehen.

reto.stifel@engadinerpost.ch

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg