Mit 62 Jahren ist genug. Das gilt für Arno Russi, der sich Ende letzten Jahres gewerkschaftskonform pensionieren liess, aber nur bedingt. Noch mindestens drei Jahre will er sich weiter um sein berufliches Steckenpferd kümmern, die Grenzgängerbetreuung. Einmal pro Monat wird Russi deshalb weiterhin in Chiavenna und in Mals seine Beraterdienste anbieten.
In Le Prese aufgewachsen, zieht es ihn nach der Schule nach Flims. Dort absolviert er bei der Post die Lehre als Betriebsbeamter, wechselt nach Genf und dort vom Büro in den Lastwagenführerstand und kehrt schliesslich als Postchauffeur in seine engere Heimat zurück. «Kaum hatte ich meine Stelle im Oberengadin angetreten, schon hielt man mir die Gewerkschaftsanmeldung unter die Nase», erinnert er sich. Kein Wunder, schliesslich war schon sein Vater als Angestellter der Diavolezza-Bahn ein engagierter Bähnler und aktiver Gewerkschafter.

Gut verankert, breit abgestützt
Selbst durchlebt Arno Russi die prägende gewerkschaftliche Ausbildung von der Pike auf und erlebt auch die Entwicklung im Gewerkschaftswesen, von der PTT-Union über die Gewerkschaft für Kommunikation bis hin zur heutigen Gewerkschaft Syndicom hautnah. Bei der Unia macht er den internen Fusionsprozess von der vormaligen Sektion Oberengadin zur Sektion Engadin, dann Graubünden bis hin zur heutigen Sektion Rhätia-Linth durch, engagiert sich ein Vierteljahrhundert im Vorstand und leitet zum Schluss die siebenköpfige Sektion. Bis zu seiner Pensionierung war er zudem von Amts wegen Vorstandsmitglied im Gewerkschaftsbund. Bis 65 weiterführen will er indes seine Mitgliedschaft in der Paritätischen Berufskommission Bau, in der kantonalen Bildungskommission, der Oberengadiner Prüfungsexpertenkommission und auch im Stiftungsrat der Lehrwerkstatt für Schreiner in Samedan.
Arno Russi hat sich bei seiner Arbeit stets vom Credo «Dialog anstatt Konfrontation» leiten lassen. «Klar können wir wie früher auf Konfrontationskurs gehen und die roten Fahnen schwenken. Das machen wir gerne am 1. Mai, aber wir suchen lieber den Dialog und handeln lösungsorientiert.» Es geht und ging ihm immer um das Wohlbefinden der Arbeitnehmenden, ohne aber das Verständnis für die Arbeitgeber ausser Acht zu lassen: «Wenn die persönlichen Gespräche mal nicht zu praktikablen Lösungen geführt haben, dann standen uns noch andere Wege offen.» Beispielsweise den Weg über eine Meldung bei der Paritätischen Berufskommission oder auch der Schritt via Medien an die Öffentlichkeit. So geschehen beim kürzlich vor Gericht entschiedenen Fall der Gerüstbaufirma Tscharner. «Es braucht aber viel, bis wir selbst in die Medien gehen», so Russi, der an dieser Stelle auch an den unrühmlichen Fall des Hotels InterContinental in Davos erinnert, bei dem ausstehende Arbeiterlöhne auch erst vor Gericht schlagzeilenwirksam erstritten werden konnten. «Ich sagte in den Gesprächen mit betroffenen Unternehmern oft, bezahlt doch das, was ihr an Bussen zu bezahlen habt, lieber vorgängig euren Mitarbeitern.»

Die meisten Fälle werden erst gar nicht publik
Lange nicht alle Fälle, in denen Gewerkschaften für die Rechte der Arbeitnehmenden kämpfen, machen und machten fette Schlagzeilen. So wurde erst unlängst ein Lohnstreit zwischen Bauarbeitern und dem Baukonsortium des neuen Albulatunnels der RhB hinter den Kulissen ausgefochten und schliesslich zum Wohle der 30 Tunnelbauer beigelegt. «Wer in einem solchen Fall am Schluss die Zeche bezahlt, müssen und wollen wir nicht wissen, Hauptsache die Arbeiter bekommen ihren Lohn», so Russi energisch.
Gerne hätte er auch seinen letzten Fall, denjenigen eines gemeindeeigenen Gastronomiebetriebes in St. Moritz, zu einem positiven Ende gebracht. «Der vorzeitige Konkurs des Pächters hat unsere Bemühungen aber zunichte gemacht. Die Leidtragenden sind leider einmal mehr die um ihren Lohn geprellten Angestellten», bedauert Arno Russi. «Recht haben und Recht bekommen ist leider nicht immer das Gleiche.»

«Mi arrangio» reicht heute nicht mehr
Die Gewerkschaften helfen Arbeitnehmenden, aber auch überforderten Kleinunternehmern in verschiedensten administrativen Bereichen, und seit drei Jahren bietet die Unia in St. Moritz auch professionelle Deutschkurse für Gastronomie-Mitarbeitende an. «Leider haben wir die Einführung solcher Kurse im Bausektor bisher nicht erreicht», bedauert Rossi, «ich predige nämlich schon seit Jahren, dass das oft gehörte ‹mi arrangio› heute einfach nicht mehr reicht». Er ergänzt: «Niemand glaubte mir, als ich sagte, ihr müsst, um Arbeit zu finden, bald nicht nur über den Malojapass, sondern bald auch schon über den Julierpass fahren. Heute ist das Usus.» Muss jemand Leute entlassen, so betrifft dies immer zuerst solche, die kein Deutsch sprechen, ganz aktuell sucht die Migros Ostschweiz Personal für Samedan. «Die nehmen niemanden, der kein Deutsch kann», so Rossi. Andererseits freut er sich, dass mittlerweile auch Grenzgänger in der Schweiz eine Lehre absolvieren können und hilft auch schon mal mit, wenn es um die Vermittlung einer solchen Stelle geht.

Sorgenkind Sonntagsarbeit
Erst am Anfang der Geschichte steht hingegen das strittige Thema Sonntagsverkauf. Nach langen Diskussionen hätte mit dem Grossverteiler Coop eine aus gewerkschaftlicher Sicht «nur halbwegs zufriedenstellende Lösung» gefunden werden können. Für Arno Russi ist klar: «Wir werden grundsätzlich wohl nicht um den Sonntagsverkauf herumkommend. Umso wichtiger ist es, endlich einen gesamtschweizerischen Gesamtarbeitsvertrag für den Verkauf zu erhalten, und zwar für alle, bis hin zum Sportgeschäft.» Doch das ist nicht alles: «Wenn ich einen Job habe und trotzdem noch am Sonntag arbeiten muss, damit es irgendwie reicht, dann stimmt etwas ganz Fundamentales nicht.» So erfolgreich Arno Rossi als Gewerkschafter war, so wenig Erfolg war ihm auf politischer Ebene beschienen. Erfolglos kandidierte er sowohl für den St. Moritzer Gemeinderat wie auch für den damaligen Oberengadiner Kreisrat. «Ich hab’s versucht», sagt er rückblickend, «habe aber schnell gesehen, dass die Oberengadiner Bevölkerung keinen engagierten Gewerkschafter in der Politik will. Damit kann ich leben. Es zeigt ja eigentlich nur, dass ich meine Arbeit gut gemacht habe.»

Zusatzinformation:

Gewerkschaft Unia – Vertreterin der Arbeitnehmenden
Die Unia vertritt als Gewerkschaftsorganisation die Interessen von Arbeitnehmenden aus den privatwirtschaftlichen Sektoren Industrie, Gewerbe, Bau und private Dienstleistungen, insgesamt rund 100 Branchen. Der Unia sind über 180 000 Mitglieder in 13 Regionen mit 26 Sektionen und rund 110 lokalen Sekretariaten angeschlossen. Diese profitieren von kostenloser Beratung, Rechtsschutz oder auch von der grössten Arbeitslosenkasse der Schweiz mit schweizweit rund 70 Zahlstellen und jährlichen Auszahlungen von gesamthaft über einer Milliarde Franken.
Auf politischer Ebene setzt sich die Unia für eine soziale und gerechte Gesellschaft ein, für Lohn- und Chancengleichheit und bekämpft Lohndumping oder Angriffe auf das Arbeitsgesetz. Weiter beschäftigt die Unia rund 1200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und hat bisher 265 Gesamtarbeitsverträge (GAV) abschliessen können, von denen rund 1,3 Millionen Beschäftigte profitieren. Ein GAV ist ein Vertrag zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern und regelt Arbeitsbedingungen, Mindestlöhne, Kündigungsfristen oder Elternurlaube. 

Das Regionalbüro der Unia-Sektion Rhätia-Linth in St. Moritz ist jeweils donnerstags von 14.00 bis 17.30 für Sprechstunden und unentgeltliche Rechtsberatungen offen, auch ohne Voranmeldung. Kontakt via: rali@unia.ch oder Telefon 0848 750 751. Weitere Informationen unter: www.unia.ch

Autor und Foto: Jon Duschletta