Engadiner Post: Lois Hechenblaikner, Sie sagen, dass 2011, als Sie einen Teil der Karteikarten zum ersten Mal sahen, dies für Sie komplett elektrisierend war. Warum?
Lois Hechenblaikner: Das war für mich ein zentrales Erlebnis, weil innerhalb einer Zehntelsekunde meine Kindheit abgelaufen ist. Ich bin in der 40-Betten-Gästepension meiner Eltern aufgewachsen und habe diese Begegnungskultur sehr hautnah erlebt. Positive Begegnungen mit Gästen ebenso wie Meinungsverschiedenheiten.

Das Hotel Waldhaus in Vulpera war aber ein Luxushaus ...
... es ist völlig egal, ob das in in einer Null-Sterne-Pension passiert oder in einem Fünf-Sterne-Hotel. Reibungsfläche ist Reibungsfläche, und lustige Begegnungen sind lustige Begegnungen. Wo Menschen aufeinandertreffen, passieren Geschichten, und die können unterhaltsam sein bis hin zu höchst nervend oder zutiefst verletzend.

Und diese Empfindungen haben ihren Niederschlag auf den Karteikarten gefunden.
Und wie! Was man hinter vorgehaltener Hand über den Waldhaus-Gast sagte, ist mit wenigen Worten auf diesen Karten notiert. Wenn ich das lese, spüre ich, dass das der einfache Arbeiter aus dem Bauch heraus gesagt hat. Diese Wucht, dieses Archaische, diese Direktheit, das ist das, was mich so gepackt hat. Das Verhältnis Reisender und Bereister respektive Gastgeber – Gastnehmer ist in all meinen Werken etwas ganz Zentrales.

Und Ihre Erkenntnis?
Tourismus funktioniert nur dann gut, wenn es Wertschätzung von beiden Seiten gibt. Das ist der Idealzustand. Die Praxis ist aber die, dass es bei einem Hotelbetrieb tausend Möglichkeiten gibt, dass etwas schiefgeht. Als Gast muss ich mich dann fragen, ob ich dem mit einem gewissen Verständnis begegne oder das Raubtier in mir herauskehre, also meine Macht ausspiele, weil ich der Zahler bin. Da passieren auch ganz viele Verletzungen auf einer subtilen Ebene.

Rechtfertigt das die Einträge?
Der Tourismus ist eine Begegnungswirtschaft. Aufseiten des Personals ist klar, dass man Menschen bedienen muss, es gibt eine Umgangs- und Bedienkultur. Aber es gibt eben auch die Würde der Menschen. Das Personal muss sich nicht alles vom Gast gefallen lassen. Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch sehr verletzende Bemerkungen gibt, die ich auf keinen Fall tolerieren kann. Aber es gibt auch die anderen Beispiele. Der Gast Robert Bosch war bekannt als Menschenfreund. Entsprechend positiv war der Eintrag auf der Karteikarte. Das zeigt mir, dass das Personal das auf der Ebene der nonverbalen Kommunikation gespürt hat, sie fühlten sich von ihm als Menschen wertgeschätzt.

Was erzählen Ihnen die Karteikarten sonst noch?
Ich sage immer wieder: Wenn du beim Detailhändler einkaufen gehst, schliesst der um 19.00 Uhr, und du musst raus. Beim Hotel aber bleibst du über Nacht, und Übernachten ist eine unglaubliche Aufladung von Geschichten, es sind Millionen von Kindern in Hotels gezeugt worden. Es sind Beziehungen gefestigt oder aufgelöst worden, was über Nacht passiert ist, hat zu Ehen oder Scheidungen geführt. Dieser 24-Stunden-Betrieb bringt einfach ganz andere Geschichten hervor. Allzu Menschliches oder auch Unmenschliches.

Vor Kurzem ist das Buch erschienen. Verschiedene, auch grosse Medienhäuser sind auf das Thema aufgesprungen. Sind Sie zufrieden mit dem Echo?
Das Echo ist total positiv. Es wurde nirgends zerrissen, sondern nur gelobt. Ich war allerdings auch nicht mit allen Rezensionen einverstanden. Wenn beispielsweise ein Schweizer Onlineportal wegen dieser Karteikarten aus dem Hotel Waldhaus die gesamte Engadiner Hotellerie als antisemitisch darstellt, so ist das schlicht und einfach falsch, weil diese Aussage auf keinerlei profunden Recherchen beruht.

Die Karteikarten mit den antisemitischen Äusserungen waren nur ein kleiner Teil der ganzen Sammlung ...
... genau. Um eine gute Übersicht zu erhalten, haben wir die Karteikarten im Buch in 17 Kapitel eingeteilt, und jene mit den antisemitischen Äusserungen waren ein Teil davon. Beim Hotel Schweizerhof in Vulpera beispielsweise wurden auch Karteikarten geführt. Da waren aber nur Adressen drauf, kaum etwas anderes. Beim Waldhaus hat sich das so entwickelt. Das war aber weit vor der Zeit des letzten Direktors Rolf Zollinger. Darum gibt es heute keine lebenden Zeitzeugen mehr, die uns erzählen könnten, wie das damals wirklich abgelaufen ist und was die Beweggründe waren. Sicher hat die damalige Direktion zugelassen, dass sich eine gewisse Beschreibungskultur des Gastes im Hotel Waldhaus etabliert hat. Diese Beschrei-bungen hatten so etwas wie die Funktion eines emotionalen Blitzableiters.

Sie haben dann Andrea Kühbacher als dritte Herausgeberin hinzugezogen, und da ist noch einmal eine neue Dimension reingekommen?
Richtig. Ich bin ein Fotograf, der sich leidenschaftlich dem Thema Tourismus widmet. Aber ich bin weder ein studierter Historiker noch ein Ethnologe. Kulturwissenschaftlerin Andrea Kühbacher habe ich zuerst nur beauftragt, meinen Einleitungstext zu lektorieren. Sie hat sich extrem ins Thema vertieft und mich auf die Karten mit den verschiedenen «PS» aufmerksam gemacht. Andrea hat richtigerweise erkannt, dass wir noch einmal zur Quelle müssen, also zum Hauptarchiv von Rolf Zollinger, um dort zu recherchieren. Und da erst haben wir realisiert, welche Brisanz diese Karten auch in einem geschichtlichen Kontext haben. Das war wie eine Fährtensuche.

Hätten Sie das Buch auch ohne die Karten mit den antisemitischen Bemerkungen gemacht?
Ja. Wie gesagt: Diese Karten haben wir in ihrem Gesamtumfang erst später entdeckt, da waren wir schon am Buch dran. Zentral für mich war, dass ich das Vertrauen von Rolf Zollinger gewinnen konnte. Das hat zwar viel Zeit gebraucht, aber es hat geklappt, und zusammen haben wir den Entscheid gefällt, das Buch zu realisieren. Ich wollte die Karteikarten nicht an mich reissen und im Alleingang etwas machen. Sie müssen sich vorstellen: Nach unserem ersten persönlichen Gespräch hat er mir 300 Karten mitgegeben. Einfach so, ohne dass ich dafür hätte unterschrei-ben müssen. Das hat mich tief berührt. Rolf war Hotelmanager und Menschenkenner, er ist zum Schluss gekommen, dass er mit vertrauen kann.

Lois Hechenblaikner ist Fotograf und Künstler. Er setzt sich seit Jahrzehnten kritisch mit dem tourismusbedingten Wandel der Gesellschaft im Alpenraum auseinander. Er hat bereits verschiedene Bücher herausgegeben und Ausstellungen realisiert. Hechenblaikner lebt im österreichischen Reith im Alpbachtal.

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg