Der Puck. 2,54 Zentimeter hoch. 7,62 Zentimeter Durchmesser. 160 Gramm schwer. Ohne ihn geht nichts im Eishockey. Keine Tore, kein Jubel, keine Punkte, kein Sieger, kein Verlierer. Dass die schwarze Hartgummischeibe in seinem Leben eine so zentrale Rolle spielen würde, wusste der kleine Federico vor gut 30 Jahren noch nicht, als er in Le Prese erstmals das Eisfeld betrat. Im Gegenteil, Schlittschuh laufen, Eishockey spielen gefiel ihm nicht. Es flossen Tränen. Nicht lange. «Plötzlich hat es Klick gemacht, und ich wollte nicht mehr vom Eis», erinnert sich Lardi. Statt Tränen floss jetzt der Schweiss. Er trainierte und trainierte. Hatte Spass, war talentiert. Das realisierten auch die Verantwortlichen des EHC St. Moritz. Sie holten ihn ins Oberengadin. Von Montag bis Freitagmittag besuchte Lardi die Schule im Puschlav, dann fuhren ihn die Eltern nach St. Moritz. Am gleichen Abend ein Training, am Wochenende Matches mit dem EHC St. Moritz, am Sonntagabend zurück ins Puschlav.
Lardi besuchte die Academia Engiadina in Samedan, erhielt ein Aufgebot für eine Nachwuchs-Nationalmannschaft und stand vor der Frage: Wie weiter? Der EHC St. Moritz spielte damals nicht in der höchsten Elite-Junioren-Liga. Davos war interessiert, Lardi absolvierte ein Probetraining, und weil auch die schulischen Leistungen stimmten, durfte er ins Sportgymnasium nach Davos wechseln. Federico aus dem kleinen Le Prese spielte jetzt beim grossen HC Davos. Als er als 19-Jähriger nach seinem letzten Jahr in der Elite A zu den Profis wechselte, nahm er ein Erinnerungsstück mit: einen Puck. Fortan benutzte er diesen Puck vor jedem Training und vor jedem Spiel, um das Isolierband satt an die Stock-Schaufel zu drücken. Das Ritual des Federico Lardi.
Ein Zeitsprung: Ostermontag, 5. April 2021, Ilfishalle Langnau, kurz vor 18.00 Uhr. Lardis Club, die SCL Tigers, haben einmal mehr in dieser Saison verloren. 2:5 gegen die ZSC Lions. Weil es in diesem Winter keine Absteiger gibt, ist die verkorkste Saison für die Langnauer vorbei. Ein emotionaler Moment für Federico Lardi, den Puschlaver, der sein Tal verlassen hatte, um die Schweizer Hockey-Welt zu erobern. Nach 502 Spielen in der höchsten Schweizer Eishockey-Liga ist definitiv Schluss. Ein letztes Mal zum Handshake mit dem Gegner, Lardi führt sein Team als Ehrencaptain an. Ein Geschenk von vielen, welches ihm seine Kollegen an diesem Tag machen. Auch wenn der Abschied vor 6000 Tigers-Fan noch emotionaler gewesen wäre, ist er berührt und weiss, dass er in diesem Team eine wichtige Rolle ausfüllte.
Vertrauen durfte er bereits früher in der Saison spüren. Von seinem Mannschaftskollegen wurde er bestimmt, die Verhandlungen mit der Clubspitze bezüglich eines Lohnverzichts zu führen. Gespart werden musste in der Corona-Saison an allen Ecken und Enden. «Mir war klar, dass wir als Mannschaft unseren Teil beitragen müssen. Wenn nicht, würde es den Club bald nicht mehr geben», sagt Lardi. Am Schluss ist es gelungen, eine passende Lösung für alle zu finden. Die SCL Tigers sind nicht von der Schweizer Eishockey-Landkarte verschwunden.
Dass diese Spielzeit für ihn die letzte sein könnte, war ihm schon früh bewusst. Als er auf die Saison 2017/18 von Lausanne nach Langnau zurückkehrte, unterschrieb er einen Zweijahresvertrag mit der Option, jährlich verlängern zu können. Doch plötzlich spürte er die körperlichen Belastungen immer stärker, hatte öfter Mühe, sich für das Training zu motivieren und fragte sich, wenn er frühmorgens von einem Auswärtsmatch nach Hause fuhr: «Bin ich tatsächlich bereit, diesen Aufwand eine weitere Saison lang zu betreiben?» Obwohl all diese Gedanken und Zweifel weit weg waren, sobald er zum Team in die Garderobe kam, kam Lardi zum Schluss: Es ist Zeit aufzuhören.
In der Saison 2004 debütierte Lardi beim HC Davos in der NLA, zwei Spiele durfte er bestreiten, einen Vertrag erhielt er nicht. «Klar, im ersten Moment war ich enttäuscht. Doch es war eine coole Erfahrung und half mir, in der NLB unterzukommen.» Martigny, Visp, Lausanne und Sierre waren die Stationen in der zweithöchsten Spielklasse. Er wusste, wenn er zu einem NLA-Klub wechseln wollte, reicht Durchschnitt nicht. Er machte das, was er besonders gut konnte: Kämpfen, sich durchsetzen, zwei Eigenschaften, die er schon früh gelernt hatte. «Ich war immer der, der von aussen zu einem Klub kam und den einheimischen Spielern den Platz streitig machte.»
In der NLB zeigte Lardi, was in ihm steckt, scorte als Offensivverteidiger regelmässig. «Ich wusste, ich muss meine 30 bis 40 Scorerpunkte pro Saison machen, wenn ich zum einem NLA Klub will.» Die SCL Tigers wurden auf den jungen Puschlaver aufmerksam, in der Saison 2010/11 erhielt er seinen ersten Vertrag in der höchsten Spielklasse und wechselte ins Emmental. Mit im Gepäck immer noch sein Puck aus Davoser Zeiten. Vom vielen Präparieren der Stöcke kleiner und leichter geworden, schätzungsweise 110 Gramm.
Anruf bei Pascal Berger, Captain der SCL Tigers. «Wie war Federico, auf und neben dem Eis?» Lange muss er nicht überlegen. «Ein Perfektionist im positiven Sinn, ein Leader, ein sehr wichtiger Spieler für uns.» Er war auf dem Eis nicht für das Offensivspektakel zuständig. Aber bei jedem Einsatz von ihm wusste das Team genau, was man von Federico bekommt.» Und ein Wort fällt immer wieder – zuverlässig. Lardi teilt diese Einschätzung. Sein früherer Trainer John Fust hatte ihm sinngemäss einmal gesagt, er solle nicht versuchen, Ausser-gewöhnliches zu machen, dafür aber das, was er könne, aussergewöhnlich gut tun. «Daran habe ich mich immer gehalten.» Wenn der Puschlaver Verteidiger auf dem Eis stand, gab es für sein Team selten Gegentore.
«Lardi war auch neben dem Eis ein Leader, hat Teamevents organisiert und hatte immer ein offenes Ohr für seine Mitspieler», ergänzt Pascal Berger noch. «Ja», sagt Lardi. Ich behandle alle Menschen gleich, nehme sie so, wie sie sind.» Darum gefällt es ihm auch so gut in seiner mittlerweile zweiten Heimat, dem Emmental. Die ehrliche, bodenständige Art der Leute, die Begeisterung für ihren Klub, die ländliche Umgebung, vergleichbar mit dem Puschlav. Einfach, ohne Berge, dafür mit Hügeln.
Ludains, St. Moritz. Ein kühler, sonniger Samstagmorgen vor zwei Wochen. Federico Lardi verbringt mit seiner Familie ein paar Tage Ferien im Puschlav. Für das Interview und den Fototermin ist er auf die Eisbahn zurückgekehrt, wo er seine Karriere so richtig gestartet hat. Erinnerungen kommen hoch an die alte Ludains, dann an den Neubau und wie sich die Spieler gefreut haben über die grösseren, hellen Garderoben. An seine Verständigungsschwierigkeiten in seinen Anfangszeiten bei St. Moritz. «Ich war italienischer Muttersprache und sprach kaum Deutsch. Wenn mir Trainer Ueli Hofmann die Übungen nicht an der Tafel aufgezeichnet hätte, hätte ich nichts kapiert.»
Und jetzt, wo die Karriere zu Ende ist, was nimmt er mit? Zum einen Erinnerungen an Highlights, NLB-Meistertitel, Play-off-Teilnahmen, Spiele vor grosser Kulisse. Zum anderen das, was ihn als Mensch geprägt hat. «Ich habe gelernt, mich durchzusetzen, habe viele Persönlichkeiten getroffen, die mir Tipps auf meinem Weg mitgegeben haben, lernte mit Sponsoren und Medien umzugehen. Der Sport war für mich eine Lebensschule.»
Nicht aber der alles bestimmende Lebensinhalt. Früh hat er sich Gedanken gemacht über das, was nach dem Sport kommen soll. Lardi hat eine Ausbildung zum Immobilienvermarkter abgeschlossen und besitzt zusammen mit einem Partner eine kleine Firma. Vorerst aber startet er Anfang Mai als Projektverantwortlicher bei einer Versicherung in einen neuen beruflichen Lebensabschnitt. Ohne die Trainings und Spiele wird er endlich auch mehr Zeit haben für die Familie. Er weiss, dass seine Frau und die beiden Kinder oft hinten anstehen mussten. Dafür, dass er seinen Traum von einer Profikarriere leben durfte, ist er seiner Frau extrem dankbar. «Sie hat im Hintergrund alles gemanagt, ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen.»
Bleibt der Puck. Lardi klaubt ihn aus seiner Einkaufstasche, die er zum Fototermin mitgebracht hat. Klein ist er geworden, Rundungen anstatt Kanten, auf 47 Gramm abgemagert und um 17 Jahre gealtert. Einmal habe er mit dem Gedanken gespielt, so lange weiterzumachen, bis es den Puck nicht mehr gibt. Man rechne: Bei einem durchschnittlichen Gewichtsverlust von knapp sieben Gramm pro Jahr wären das noch einmal mindestens sechs Saisons gewesen. Unvorstellbar. «Ich wollte nie, dass meine Karriere durch eine Verletzung zu Ende geht oder mir der Sportchef keinen neuen Vertrag mehr anbietet. Ich konnte den Zeitpunkt selber bestimmen. Für mich stimmt es.»

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg