«... 71, 72, 73!» Zum zweiten Mal schon zählen zwei Milchbäuerinnen die weissen Gedecke im dezent beleuchteten Speisesaal vom Hotel Waldhaus am See durch. Jetzt endlich stimmt alles. Derweil begrüssen die Rezeptionistin und zwei Bäuerinnen die ankommende Gäste, zwei andere stehen hinter der Bar und servieren erste Getränke, wieder andere hantieren in der Hotelküche und bereiten dort Apéro und das Drei-Gänge-Menü vor.

Die Frauen, 15 an der Zahl, sind allesamt Milchbäuerinnen aus dem Unterland, haben sich spontan hinter die Initiative ihrer Berufskollegin Petra Arto und dem Präsidenten der Genossenschaft Vereinigte Milchbauern Mitte-Ost, Hanspeter Egli, gestellt und sich voller Vorfreude auf das Abenteuer Waldhaus eingelassen.

Ein Abenteuer mit Vorgeschichte, wie Egli im Verlauf des Abends zum Besten gibt. So hat 1945 der damalige Milchverband Winterthur das 1885 erbaute Hotel Waldschlössli, wie das Waldhaus bis 1983 noch hiess, von der Schweizerischen Volksbank übernommen. Aus dem Milchverband entstand die Genossenschaft Vereinigte Milchbauern Mitte-Ost, kurz VMMO und zählt heute 4000 Mitglieder aus elf Kantonen der Ost- und Zentralschweiz, welche zusammen rund ein Viertel der schweizerischen Milchmenge produzieren.

1983 beginnt die Ära Bernasconi

Vor 40 Jahren übernimmt Claudio Bernasconi das Waldschlössli als Pächter, benennt es in Hotel Waldhaus am See um und stellt schnell auch auf einen Ganzjahresbetrieb um. Mit unkonven­tionellen Aktionen sorgt er regelmässig für Schlagzeilen. Einige dieser Anekdoten gibt der frühere Tourismusdirektor und Wegbegleiter der Bernasconis, Hanspeter Danuser, spontan zum Besten. Er sorgt mit dem vierköpfigen Alphorn Ensemble Engiadina St. Moritz zudem für die musikalische Begleitung am Abend.

Mittlerweile ist die nächste Generation Bernasconi am Ruder des Familienunternehmens. Seit 2011 führt Sohn Sandro den Hotelbetrieb, und Nico, der andere Sohn, hat eben erst die Geschäftsführung der World of Whisky AG übernommen. Und jetzt, zum 40. Jubiläum haben die Bernasconis ihre 35-köpfige Belegschaft für neun Tage nach Costa Rica ins Hotel Capitan Suizo nach Tamarindo eingeladen. Für den nächsten Herbst ist dann der Gegenbesuch des Capitan-Suizo-Teams in St. Moritz vorgesehen.

Die Verantwortlichen der Genossenschaft VMMO profitierten ihrerseits von der Gelegenheit, liessen während der Abwesenheit des Personals deren Zimmer umbauen und andere Hotelbereiche sanieren (siehe separaten Online-Beitrag). Daraus entstand dann auch die Idee, das Hotel ein Wochenende lang in die Hände von 15 Milchbäuerinnen zu geben, und schnell war auch der Slogan geboren: «Herzlich willkommen bei ‹Milchbäuerinnen ‹kapern› das Hotel Waldhaus am See›.» Mit Erfolg. Innert vier Tagen waren alle verfügbaren Zimmer durch VMMO-Mitglieder ausge­bucht, das umfangreiche Rahmenprogramm und auch die Menüpläne für die beiden Abende zusammengestellt.

 

Rollentausch auch in der Küche

Zurück im Hotel, wo die Hektik unter den Milchbäuerinnen zunimmt. Sie servieren Apérogetränke und -häppchen, eilen mit frischen Getränken durch die Lobby, räumen hier und dort leeres Geschirr weg und haben trotzdem immer und überall ein offenes Ohr und einen flotten Spruch bereit. Sie weisen den Gästen ihre Tische zu, nehmen Getränkebestellungen auf und auch sie applaudieren dem Alphorn Ensemble zwischen den Stücken.

In der Küche steht Waldhaus-Chefkoch Giuliano. Während sein Mitarbeiter Daniele schmutziges Geschirr in die Spülmaschine räumt, putzt dieser den Boden. Beide sind sie nicht mit nach Costa Rica gereist und beide stehen den Frauen in der Küche mit Rat und Tat zur Seite. Giuliano hilft, die professionellen Küchengeräte zu bedienen, zeigt, wo Küchenutensilien zu finden sind, legt beim Fleisch selbst mal Hand an, lässt aber dort, wo tagein tagaus jeweils sechs Köche und drei Tellerwäscher arbeiten, für einmal die Frauen gewähren. Die prosten sich, ganz die Ruhe vor dem Sturm, mit einer Runde weissem Glühwein zu und freuen sich ob diesem Rollentausch: «Daniele macht den Abwasch», sagt eine der Frauen lachend, «er lässt sich nicht helfen, das sind wir zu Hause nicht gewohnt.»

Derweil steht in der Hotellobby die wacklige Videoverbindung nach Zentralamerika. «Grüezi Costa Rica, hier ist St. Moritz», ruft VMMO-Mitarbeiterin Damara Lenz. In Costa Rica grüssen Sandro Bernasconi und eine kleine Gruppe Mitarbeitende zurück: «Wir sitzen hier bei 32 Grad Celsius am Strand, geniessen Zeit und Natur und all die wunderschönen Vögel.» Auch Petra Arto winkt, sagt zum Schluss des kurzen Gesprächs: «Vielen Dank für das Vertrauen, uns gefällt's, wir bleiben vielleicht noch länger.»

Informationen unter: www.milchbauern.ch 

Autor und Fotos: Jon Duschletta