21.02.2024 Romana Ganzoni 3 min
Foto: Romana Ganzoni

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Celerina. In den Zug einsteigen. Und an die Arbeit. Wenn ich in Zürich ankomme, muss die Erzählung fertig sein. Abgabe: in zwei Tagen. Morgen habe ich keine Zeit. Noch rasch die Agenda in Ordnung bringen. Auf eine Nachricht antworten. Rechner aufklappen. Da schiebt sich auf der Höhe Bever ein Begriff in den Kopf, «glatsch viv», was auf romanisch «Glatteis» bedeutet. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Glatteis und anderem Eis, zum Beispiel dem Eiswürfel aus dem Gefrierfach, der ist doch auch glatt, aber ich lutsche kein Glatteis, und ich nehme an, Glatteis knirsche nur in grösster Not zwischen den Zähnen, unter normalen Umständen gelangt es wohl selten dahin. 

Ich gehe nicht davon aus, dass meine Nachbarin es auf dem Parkplatz vor dem Coop sammelt, zwecks Erfrischung. Oder es sich in den Mund steckt, nachdem sie hingefallen ist. Dafür ist Glatteis nämlich da. Damit es dich umhaut. Manchmal brichst du ein Bein. Oder einen Arm. Der Eiswürfel ist da, damit der Zahn abbricht, aber selten würdest du das Bein oder den Arm wegen eines Eiswürfels brechen. Eine von Eiswürfel gepflasterte Strasse wäre wohl ein Kunstwerk, das niemand betreten dürfte. Wir wären gewarnt. Vor dem Glatteis und dem Kunstwerk. 
 
Wie verhält es sich mit der vereisten Piste und dem normalen Eis auf dem Julier-Pass, das uns ja auch, wie Glatteis, zum Verhängnis werden kann? Was ist mit der Gletscherspalte? Alles rutschig. Bein- und Armbruch, auch Tod, nicht ausgeschlossen. Aber dicker. Eher am Rand. Verschmutzter. Nach unten führend.
 
Ist das Glatteis, der «glatsch viv», eine Art Markenbotschafter für alle vorkommenden Eissorten, minus Himbeer und Vanille, also minus gesüsste Eise, die gar keine Eise sind, sonst wäre löffeln ja unmöglich. Nicht gesüsst, aber trotzdem künstlich und sehr glatt ist die Bobbahn mit dem Eiskanal oder der Eisplatz, trotzdem gilt er niemandem als Glatteis, wohl weil erwünscht und nicht hinterhältig daliegend, bis das Bein oder der Arm bricht. Sofern wir einen Skeleton haben oder Kufen an den Schuhen beziehungsweise einen Plastikeisbären, der uns hoffentlich sicher bis zum nächsten Lautsprecher bringt. Im Engadin gibt es ganze Seen voller Glatteis, da heisst es aber Schwarzeis. Obwohl es selten schwarz ist. Manchmal schon. 
 
Nun zurück zum Wort, «glatsch viv», was lebendiges, aber auch lebendes Eis bedeutet. Was wäre dann «glatsch mort», totes Eis? Toteis? Wasser? Und der Gegensatz zum lebendigen Eis? Ein hoffungslos träger Eiswürfel, der im Gefrierfach wochenlang neben dem Dorsch und der angebrochenen Erbsli-Packung müffelt. Ich lache. Die Frau gegenüber schaut mich unterkühlt an. Ich denke, mein Blick muss nun möglichst rutschfest sein. Dann sehe ich ihren rechten Arm, er ist geschient. Gute Besserung!, wünsche ich. Sie lächelt gezwungen und sagt, Glatteis. Tut mir leid, antworte ich und beginne sofort zu schreiben.

Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin publiziert sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen und Radiobeiträge. Sie wurde nominiert für den Bachmannpreis, und erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds, zudem ist sie Trägerin des Bündner Literaturpreises.