12.05.2025 Larissa Bassin 2 min
Foto: Larissa Bassin

Foto: Larissa Bassin

Vor Gate 25B im Bahnhof von Shanghai hat sich eine lange Schlange gebildet. Ich suche den Boden nach der Markierung «Foreigners» ab, um sicherzugehen, dass ich mich richtig anstelle – an dem Schalter, wo mein roter Pass von Hand gescannt wird. Als ich ihn finde, bin ich die Einzige dort. Offenbar hat die Reisezeit für Europäer:innen im April noch nicht begonnen. Gut für mich: So geht alles schneller. Mit der Rolltreppe geht es hinunter zum Bahnsteig, wo ein glänzender Hochgeschwindigkeitszug bereits mit offenen Türen wartet. Ich laufe hunderte Meter bis zu Wagen 4, finde meinen Fensterplatz in der Dreierreihe und lehne mich zurück. Auf die Sekunde pünktlich setzt sich der Zug in Bewegung. Eine chinesische Familie setzt sich kurze Zeit später zu mir. Vier grosse Kinderaugen blicken neugierig zu mir herauf. Ein kleiner Streit entbrennt darum, wer neben der «Fremden» sitzen darf. Schliesslich quetschen sich ein Junge und ein Mädchen gemeinsam auf den Sitz neben mich. Wir teilen meine mitgebrachten Blaubeeren, sie geben mir im Gegenzug Sonnenblumenkerne. Dass wir uns nicht verstehen, spielt für die nächsten Stunden keine Rolle. 
 
Denn: Die Reise dauert elf Stunden. Mit 300 km/h rauschen wir vorbei an Staudämmen, Feldern, kleinen Siedlungen und gigantischen Infrastrukturprojekten – hinein in die Provinz Sichuan. Falls Ihnen das bekannt vorkommt: Ja, genau – von hier kommt der berühmte Sichuanpfeffer, der bei uns gerne in der Küche verwendet wird. Ausserdem ist die Region für Pandabären und mehrere Millionenstädte bekannt. Bis ich mich durch die legendäre Sichuan-Küche kosten kann, dauert es noch – fürs Erste gibt es Zugessen. Per QR-Code an der Armlehne bestelle ich mein Gericht aus einer verwirrenden Auswahl an kreativen Übersetzungen. Diese reichen dieses Mal von «Weissen Wolken mit Phönixkrallen» bis zu «fettreduziertem gereiften Essigholz». Ich halte mich an die Bilder und bekomme 30 Minuten später tatsächlich Reis mit Hühnchen und Gemüse. Glück gehabt!
 
Nach weiteren fünf Stunden erscheint endlich «Chengdu» auf der Anzeigetafel, das Endziel meiner heutigen Reise. Schon Minuten vor der Einfahrt drängen sich die meisten Fahrgäste mit Koffern, Plastiktüten voller Essen, Decken, Kissen und sogar ganzen Wasserkanistern in den Gang. Ich folge ihnen, zeige noch einmal meinen Pass an einem separaten Schalter und werde dann entlassen, hinein in ein kulinarisches Abenteuer im Südwesten Chinas.

Larissa Bassin

Larissa Bassin ist 26 Jahre alt und in La Punt Chamues-ch aufgewachsen. Die ehemalige Praktikantin der Engadiner Post wohnt und arbeitet in Zürich. Dabei entdeckte sie, dass sie wohl eher ein Stadtkind ist und schätzt das kulturelle Angebot, die Vielfalt der Menschen, die Anonymität, Abendverkäufe, das Nachtleben und kleine Cafés, die tatsächlich immer Hafermilch im Angebot haben. Nichtsdestotrotz zieht es sie gerade im Winter auf die Pisten, wofür sie die ein oder andere Vorlesung sausen lässt, oder sie wandert auf den Piz Mezzaun, wenn sie den Kopf lüften muss.