26.05.2025 Bettina Gugger 6 min
«Der Zögling soll seine Lektion weniger hersagen als in die Tat umsetzen», forderte bereits Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert. Bild: zvg

«Der Zögling soll seine Lektion weniger hersagen als in die Tat umsetzen», forderte bereits Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert. Bild: zvg

Montaigne widmete den Essay der Adeligen Charlotte Diane de Foix-Candale kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes. In adligen Kreisen kamen im 16. Jahrhundert durchaus auch die Mädchen in den Genuss der Bildung. Da war beispielsweise die Adelige Diana d’Andoins, die durch ihren Intellekt und Esprit den französischen König Heinrich IV. acht Jahre lang an sich gebunden haben soll. Mit ihr pflegte Montaigne eine rege Brieffreundschaft. Und Marie de Gournay ist ein Beispiel dafür, dass auch ein Mädchen aus armen Verhältnissen im Selbststudium intellektuelle Höhen erreichen konnte. Als Jugendliche ernannte Montaigne sie zu seiner «Wahltochter» und beauftragte sie später mit der Verwaltung seines literarischen Nachlasses. 1622 postulierte Marie de Gournay die Gleichheit von Frauen und Männern und den Zugang zu Bildung und politischen Schlüsselfunktionen. Es ist sicherlich nicht falsch, Michel de Montaigne einen stillen Feministen zu nennen.

Von Michel de Montaigne zu Gerald Hüther
Mit kleinen Anpassungen, vornehmlich durch das Ersetzen von «Knaben» durch «Lernende» und «Erziehung» durch «Bildung» und etwas Fantasie liesse sich aus Montaignes Essay ein modernes Stück des Hirnbiologen Gerald Hüthers machen. Gut, auch auf die antiken Bezüge müssten wir wohl verzichten, da vom heutigen Leser nicht mehr vorausgesetzt werden kann, dass er beispielsweise Tertullian (150 – 220) kennt – den frühchristlichen Theologen, der erstmals den Begriff der «Trinität» verwendete. 

Gerald Hüther ist ein Experte für Potenzialentfaltung. Neugierde und die Freude am Spielen und Entdecken sind laut Hüther zentral für lebenslanges Lernen, im Gegensatz zum klassischen Erziehen, Eintrichtern und Auswendiglernen, die mit Zwang verbunden sind. Damit machen wir laut Hüther die Kinder zum Objekt unserer Erwartungen, woraus Verwicklungen entstehen, aus denen wir uns ein Leben lang rauskämpfen müssen. Der Engadiner Coach aus meinem vorangehenden Blogbeitrag würde von «Limitierungen» sprechen.

Auch Montaigne verurteilte den Zwang: «Von klein auf schreit man uns die Ohren voll, als ob man unablässig in einen Trichter nachschütte, und nichts anderes haben wir zu tun, als immer wieder nachzusprechen, was man uns vorgesprochen hat.» Der Erzieher solle es stattdessen besser machen und: «Von Anfang an die seinen Händen anvertraute Seele je nach Leistungskraft ihr Können vorführen und selber die Gegenstände richtig einschätzen, unterscheiden und wählen lassen …»

Würde Montaigne einen Blick in die heutigen Schulstuben werfen, dürfte er wohl ziemlich enttäuscht sein, denn schon vor fast 500 Jahren konstatiert er: «Bei den Schulmeistern, die unserem heutigen Brauch getreu mit ein und demselben Unterrichtsstoff und nach ein und demselben Mass eine Vielzahl junger Geister von so unterschiedlichen Massen und Begabungen unter ihre Fuchtel nehmen, ist es kein Wunder, wenn sich in der ganzen Herde Kinder kaum zwei oder drei finden, die aus solcher Erziehung einen nennenswerten Gewinn davontragen.»


Meide, was keinen Nutzen bringt
Laut Montaigne sollen die Zöglinge nicht bloss auswendig lernen. In Fleisch und Blut muss das Gelernte übergehen. Montaigne zielt dabei immer auf die Lebenstüchtigkeit ab. Was keinen Nutzen bringt, rät er zu meiden. Dabei dürfe man nicht bloss die Seele stärken, man müsse auch die Muskeln kräftigen. Die jungen Leute sollen reisen, um sich einen Begriff von der Weite der Welt zu machen und um die eigene Unvollkommenheit und Schwäche zu erkennen. Der Zweifel stärkt schliesslich die eigene Urteilskraft, denn es gilt: «Vor der Wahrheit die Waffen zu strecken.»

In der Tugend sieht Montaigne «die Nährmutter der menschlichen Freuden». Die Tugend lehrt die Mässigung und die Freuden an jenen Dingen, welche die Natur bereithält. Sie kommt laut Montaigne ohne das gewöhnliche Glück aus. «Sie versteht es, auf rechte Weise reich und mächtig und gelehrt zu sein, und selbst hingestreckt auf parfümierten Polstern bleibt sie sich treu. Sie liebt das Leben, sie liebt die Schönheit, den Ruhm und die Gesundheit.» Ihr eigentlicher Dienst bestehe darin, die Güter massvoll zu gebrauchen und standhaft zu bleiben. Damit verweist Montaigne auf das, was wir heute «intrinsische Motivation» nennen; wenn wir uns aus innerer Überzeugung und Spass an der Sache für etwas einsetzen und nicht, weil uns die Aussicht auf eine Belohnung in Form einer guten Bezahlung oder sozialem Ansehen lockt. Die Tugend bringt also nicht nur persönliche Vorteile, indem sie für langfristige Zufriedenheit sorgt – ihre Missachtung führt hingegen zu «Entartung, Verwirrung und Verkrüppelung des ganzen Lebens» –  sie ist ein gesellschaftlicher Kitt. Sowie später der Hirnforscher Gerald Hüther auf die Bedeutung der Gemeinschaft für die Potenzialentfaltung verweist, lag auch Montaigne der «Gemeinsinn» und die Freundschaft am Herzen.

Auch Montaignes Schlussplädoyer könnte moderner nicht sein: «Es gibt nichts Besseres, als in den Zöglingen Lust und Liebe zum Studium zu erwecken, sonst züchtet man nur mit Büchern beladene Esel heran, die man mit Rutenschlägen dazu zwingt, ihre Schultaschen voll Wissen ständig mit sich herumzuschleppen. Dem Wissen aber darf man, wenn es förderlich sein soll, bei sich nicht bloss Unterkunft gewähren – man muss den Bund fürs Leben mit ihm schliessen.»

 
Nichts kann unsere Neugierde ersetzen
Vor diesem Hintergrund dürfte ChatGPT nicht unser grösster Feind sein, sondern unsere, unter anderem durch ein veraltetes Schulsystem hervorgerufene Trägheit, hinter der die Angst vor Wissen steckt und die unser grösstes Potenzial, die Neugierde, lähmt.

Zurück zur Anfangsfrage: War Montaigne ein Männercoach? Dass er die Bildung von Mädchen nicht ausschloss, dürfte ich eingangs dargelegt haben. Wenn Montaigne tatsächlich so etwas wie ein Coach war, dann sprach er für alle Menschen, indem er von ganz alltäglichen Dingen schrieb – und zwar auf Französisch anstatt auf Latein – aus dem die Leser:innen Ratschläge für ihr Leben gewinnen konnten. Durch seine persönlichen Erfahrungen, die in seine Argumentation einflossen, zeigte er sich so nahbar wie ein heutiger Influencer. Aber im Gegensatz zu heutigen Coaches, die sich der «Persönlichkeitsentwicklung» verschreiben, und ihrer Klientel persönliches Wachstum, Selbstverwirklichung und Glück versprechen, war Montaigne immer ein Philosoph. Die Liebe zur Wahrheit durchdringt sein Werk, und damit führt für ihn der Weg zum Glück immer über die Vernunft, sprich, über das Denken. Etwas, das heute kaum ein Coach unterrichtet. 

Bettina Gugger

Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder ins Unterland verschlagen. Sie ist redaktionelle Leiter vom Newsletter «cültür», der einmal wöchentlich das kulturjournalistische Geschehen über die Sprachgrenzen hinaus kommentiert. Zudem arbeitet sie als Redaktorin beim Frutigländer und als freie Kulturjournalistin für diverse andere Medien. 
2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.