Neulich habe ich ein Glace gegessen. Pralinato, mein Lieblingseis am Stiel. Es gibt ja Leute, die essen Glace beim Gehen, kaufen es, öffnen es sofort und laufen schleckend herum. Für mich wäre das kein Genuss. Glace ist etwas Feines, das beim Verzehr ein Mindestmass an Ruhe und Sittlichkeit verdient.
Deshalb schob ich den noch eingepackten Eisstängel in die Seitentasche meiner Shorts und schaute nach einem Plätzchen im Schatten, was angesichts der Hitze nicht einfach zu finden war. Die Bänke unter den Bäumen waren alle besetzt, also lief ich zu den Umkleidekabinen, lehnte mich an die Wand und glitt langsam zu Boden, ohne dabei mein Pralinato zu quetschen. Den See konnte ich von hier zwar nicht sehen, aber immerhin roch es nicht, die Toiletten waren zum Glück auf der anderen Seite. Nichts störte meine Geschmacksnerven und ich konnte mich voll und ganz meinem Rahmglace mit Schokoüberzug widmen.
Ich trennte die Verpackung auf und zog den kühlen Lutscher heraus. Vorsichtig knabberte ich die Schokolade weg und liess sie auf der Zunge zergehen, genoss zunächst nur den zuckrigen Kakaogeschmack, bis ungefähr die Hälfte des cremigen Teils hervorschaute. Erst dann tastete ich mich an das Haselnusseis heran, zunächst mit sanftem Schlecken, schliesslich umschloss ich den Lutscher mit dem ganzen Mund und zog ihn langsam heraus.
Was für mich gar nicht geht, ist ins Glace hineinzubeissen und es in schnellen Happen hinunterzuschlucken. Das wäre reine Verschwendung. Nein, Glace zu essen, braucht Zeit. Schon als Kind war ich immer am längsten damit beschäftigt, nicht selten tropfte das weichgewordene Eis auf meine Hose, während meine Brüder längst wieder am Spielen waren. Schon damals mochte ich Pralinato, doch noch lieber ass ich Caramello: dieselbe Form, doch der Kern nicht aus hartem Praliné, sondern aus zähem Karamell. Bis man den Karamellkern sauber weggelutscht hatte, dauerte es ewig, was ganz nach meinem Geschmack war. Irgendwann verschwand der Caramello aus dem Sortiment, also bin ich auf Pralinato umgestiegen und ihm bis heute treu geblieben.
Natürlich war der Stiel früher nicht aus Holz, sondern aus goldfarbenem Plastik, passend zum Ton der Schokolade. Um Material zu sparen, hatte er die Form einer Leiter mit Holmen und Sprossen. Der Stiel war dadurch biegsam und ich liebte es, das Glace vor dem Verzehr hin und her zu schwingen. Es gehörte zum Gesamterlebnis, wie auch den nackten Plastikstiel am Schluss in zwei Teile zu trennen. So beugte ich am Plastik herum, bis sich die beiden Holme mit einem Ritsch voneinander lösten. Damit fand der Glacé-Spass ein würdiges Ende.
Zu dieser Zeit redete niemand von Mikroplastik in der Umwelt, sondern eher von Waldsterben. Holzstiele waren ein No-Go. Es sollten ja keine zusätzlichen Bäume sterben, nur weil Leute gerne Glace essen. Ja, so ändern sich die Zeiten. Umso erstaunlicher ist es, wie gewisse Dinge die Zeit überdauern, neben dem Pralinato die Wasserglaces Winnetou und Rakete zum Beispiel. Letztere wurde 1969 erfunden, die erste Mondlandung gab die Inspiration. Seither schmeckt die Rakete immer gleich, viel Wasser und Zucker, etwas Orange- und Ananasaroma und eine dünne Schokoglasur auf der Spitze. Anfänglich soll sie nur 30 Rappen gekostet haben.
Als ich meinen Pralinato fertiggeschleckt hatte, stand ich auf, lief gemütlich zum See und sprang hinein. Ich lies mich auf dem Rücken treiben, schaute in den Himmel und überlegte mir, ob ich als nächstes wieder mal eine Rakete essen soll.

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