30.07.2025 Bettina Gugger 9 min
Mit dem weltberühmten Chanson «Non, je ne regrette rien» von Édith Piaf wurde «Je ne regrette rien – ich bereue nichts» zum geflügelten Wort. Foto: z. Vfg

Mit dem weltberühmten Chanson «Non, je ne regrette rien» von Édith Piaf wurde «Je ne regrette rien – ich bereue nichts» zum geflügelten Wort. Foto: z. Vfg

Ich packe Bücher in Kisten, da ich meine Wohnung in Seftigen aufgebe und für ein halbes Jahr nach La Neuveville ziehe. Ich will Ballast abwerfen, um wieder mehr Zeit fürs literarische Schreiben zu haben. Aber darüber mehr im nächsten Blog. Erstmal geht es ums Loslassen und Rekapitulieren: Wo bin ich mit meiner Lektüre stehen geblieben, wie werde ich meine eigene Geschichte weiterschreiben?

Ab und zu schlage ich ein Buch auf, und manchmal entdecke ich zwischen den Seiten einen Zettel mit fremder Handschrift, eine Widmungskarte oder eine Fotografie. Aus «Der Gott der kleinen Dinge» von Arundhati Roy lacht mir eine Telefonnummer entgegen. Ich spiele mit dem Gedanken, diesem unbekannten Christoph eine Nachricht zu hinterlassen: «Guten Tag, ich fand Ihre Telefonnummer in einem Buch von Arundhati Roy. Das spricht für Ihr Karma», oder etwas profaner ausgedrückt, «das spricht dafür, dass Sie einen guten Umgang pflegen. Herzliche Grüsse von einer Unbekannten, die auf diesem verschlungenen Pfad von Ihrer Existenz erfahren hat. Ihre B.»

Zwischen Sophokles’ «König Ödipus»-Seiten war lange eine Fotografie verborgen. Sie zeigt ein Mädchen, es muss auf dem Bild ungefähr elf Jahre alt sein, mit dunklem, leicht gelocktem Haar und einem Pony. Es trägt ein weisses, bodenlanges Kleid und weisse Handschuhe, im Haar einen Blumenreifen. In der Hand hält es eine Platte mit Patisserie. Ein leicht spitzbübisches Lächeln umspielt ihre Lippen. Aus ihrem Gesicht spricht zugleich eine Ernsthaftigkeit, die von stolzer Pflichterfüllung zeugt. Im Hintergrund sind nur ein Laster, ein Fahrrad und ein Auto zu sehen. Dem Auto nach zu schliessen, muss das Foto in den 70er Jahren aufgenommen worden sein, vermutlich irgendwo im Süden. Die linke Häuserzeile deutet eine gekachelte Fassade an, wie sie etwa in Portugal und Spanien vorkommt. Der Bürgersteig ist mosaikartig gepflastert. Die Strasse ist sehr sauber. Das Licht wirkt milde. Der Schattenwurf deutet auf eine späte Nachmittagsstunde hin.
Ich wüsste nur allzu gerne, was aus diesem edlen Brautmädchen geworden ist.

Wenn die Vergangenheit aus der Zukunft kommt


Vor ein paar Tagen fragte ich meine Mutter nach Gotthelf-Büchern, da ich mich in den nächsten Wochen der Erforschung des Berndeutschen widmen will, dessen Erzähltradition mitunter auf Gotthelf zurückgeht. Ich packte drei Bände ein. Ausserdem stach mir eine Werkreihe von Albert Schweitzer ins Auge. Aufs Geratewohl nahm ich Band 1 mit. Im Zug begann ich im Buch zu lesen und da erreichte mich ein Gruss meiner Grossmutter selig. Eine Dankeskarte des Schweizer Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene war zwischen den Seiten versteckt, adressiert an meine Grossmutter. Der Poststempel ist unleserlich. Aber die Briefmarke hat den Wert von 20 Rappen. In der Schweiz zahlte man zuletzt 1958 so wenig für einen Brief. Das Hilfswerk wurde 1949 ins Leben gerufen und 2020 in «Albert-Schweitzer-Werk» umbenannt. Erst kürzlich erzählte mir meine Mutter zufällig, welche Hilfswerke sie unterstützt. Die Liste wollte kein Ende nehmen und ich war verblüfft, dass mir die Spendenbereitschaft meiner Mutter über all die Jahre entgangen war – nicht ihre Grosszügigkeit, für diese Tugend, die meinen Geschwistern und mir beide Elternteile vorgelebt haben, bin ich sehr dankbar –, aber während meine Mutter in aller Stille spendet, ist meinem Vater die Wohltätigkeit ins Gesicht geschrieben. Vermutlich hält er in seiner Hosentasche das Kleingeld für die Bedürftigen bereits bereit. Jedenfalls habe ich nie erlebt, dass er einem Bedürftigen eine Bitte hätte abschlagen können.

Ich bringe Bücher in den Bücherschrank, dicke Bücher wie «Berta Isla» von Javier Marias, ein Buch, dessen Geist ich verinnerlicht habe, sodass ich es in physischer Form nicht mehr brauche. Ich lege aber auch Bücher in den öffentlichen Schrank, die ich nur angelesen habe, wie eine Rosinenpickerin, die das ganze Gericht verschmäht und sich nur das Beste herausnimmt. Oder Bücher, auf deren Aura ich mich nicht einlassen kann. Das sind Bücher der Kategorie Daniel Kehlmann, die ich dann doch ab und zu aus öffentlichen Bücherschränken mit nach Hause bringe, weil beispielsweise ein Autor wie Matthias Zschokke jenen Autor empfiehlt. Ich bin eine Bücherelster und mein Leseverhalten sagt viel über meinen Charakter aus: leicht entflammbar, für vieles zu begeistern, aber unstet. Über die gesamte Disziplin des Lesens hinweg gesehen bin ich jedoch gewissenhaft. Daher rührt vielleicht auch meine leichte Entflammbarkeit, aus dem Gedanken heraus, die gesamte Welt(literatur) im Eiltempo verschlingen zu müssen.

Ich nehme dieses Mal nur ein dünnes Bändchen von Kurt Marti mit nach Hause, «Heil Vetia». In einem Gedicht über seinen Geburtstag schreibt er, dass er gebeten worden sei, an einer Versammlung eine bestimmte Position zu vertreten, er aber inzwischen seine Meinung längst wieder geändert habe und nun Nüsse esse. Das Bekenntnis zum Wankelmut gefällt mir. Die Unstetigkeit der Meinung oder des Geschmacks scheint zwangsläufig einen intellektuellen Geist zu begleiten. Und in unserer polarisierten Welt kann es nur gesund sein, eine gewisse Meinungserosion zu pflegen. Buddhistisch alle Gedanken zulassen, um sie wieder ziehen zu lassen. Wie idealistischerweise im Journalismus.

Tugendhaftes Leben schützt vor Reue

Zurück zu meiner Gewissenhaftigkeit, von der Sie eventuell noch nicht ganz überzeugt sind. Schliesslich scheint sie sich auf den ersten Blick schlecht mit der Unstetigkeit zu vertragen.
Ich habe Michel de Montaigne, dem ich mich in diesem Blog widme, nicht aus den Augen verloren. Den Essay, den ich mir für dieses Mal vorgenommen habe, handelt vom Bereuen. Und wenn Sie meine letzten Blogs gelesen haben, dürfte Ihnen Montaigne bereits vertraut sein. Er ist ein Mann, der nach seinen Gesetzen lebt, die er aus seiner Vernunft herleitet. Nicht zufällig spricht Montaigne von Gesetzen: Er war zuletzt Gerichtsrat in Bordeaux, wo er als Beauftragter der Berufungskammer Rechtsfälle beurteilte, bevor er sich mit 38 Jahren auf sein Schloss zurückzog, um sich ganz dem Schreiben zu widmen.

Wer ein tugendhaftes Leben führt, so Montaigne, hat auch nichts zu bereuen. Ein lasterhaftes Leben zu führen, sei schlicht unvernünftig, da es Unannehmlichkeiten nach sich ziehe. Dabei sollte man sich jedoch nicht vom Urteil der anderen leiten lassen. Montaigne schreibt: «Vor allem wir, die wir ein zurückgezogenes, nur unseren eigenen Blicken zugängliches Leben führen, sollten in unserem Inneren ein Leitbild errichten, an dem wir unsere Handlungen prüfen und uns dementsprechend streicheln oder strafen. Ich jedenfalls habe meine eigenen Gesetze und mein eigenes Tribunal, um über mich zu urteilen, und an sie wende ich mich öfter als sonst wohin.» Erst wer gegen seine eigenen Gesetze verstösst, hat etwas zu bereuen.


Montaigne gibt auch in diesem Essay eine sonderbare Anekdote wieder, welche seine Argumentation veranschaulicht. Auf dem Landgut eines Verwandten trifft er einen Bauern, welcher «der Dieb» genannt wird. Da dieser als Bettler geboren wurde, sah er keine Möglichkeit, sein Brot mit ehrlicher Handarbeit zu verdienen, weswegen er beschloss, sich dem Diebstahl zu widmen. «Während seiner ganzen Jugend übte er vermöge seiner Körperstärke diese Art Handwerk völlig ungestört aus, denn er erntete fremde Äcker und Weinberge in derartiger Entfernung voneinander und in derartigen Mengen ab, dass niemand sich vorzustellen vermochte, ein Mann könne ganz allein in einer Nacht so viel auf seinen Schultern wegtragen.» Durch diese Beschäftigung habe er es zu Wohlstand gebracht, und um vor Gott ins Reine zu kommen, entschädigte er die Nachkommen der Bestohlenen. «Falls er das nicht ganz schafft», so Montaigne, «denn alle auf einmal bedenken kann er tatsächlich nicht, will er seine Erben anweisen, die Wiedergutmachung des jedem Einzelnen zugefügten Schadens zu Ende zu führen: anhand der ihnen übermittelten Kenntnisse, die er bisher ja ganz allein besitzt.» In den Augen des «Diebes» legitimiert der Gedanke der Wiedergutmachung also den erneuten Diebstahl. Und tatsächlich: Wie könnte man diesem Dieb ernsthaft böse sein, so krude seine Wiedergutmachungslogik auch sein mag. Seine hehre Absicht ist rührend, ganz abgesehen von seiner unverschuldeten Armut, die ihn erst zum Dieb machte.

Montaigne schreibt: «Die Laster von gestern sind die Tugenden von heute». In diesem Sinne habe ich wenig zu bereuen: Die früheren Laster habe ich längst durch Tugenden abgegolten. Während ich meine Bücher in Kisten packe, lege ich gefühlt jedes zweite Buch auf die Seite, um es nach La Neuveville mitzunehmen. Ich bereue, es noch nicht gelesen zu haben. Und ich weiss, dass ich am Ende meines Lebens um jedes Buch trauern werde, das ich nicht kennengelernt habe. Inzwischen habe ich auch Gotthelfs «Erdbeermareili» gelesen. Beim Lesen ist mir, als ob ein Übervater zu mir spricht, sich eine grosse Seele vor mir öffnet und mich an Dinge erinnert, die ich längst weiss, aber vergessen habe. Er spricht von Menschen, die ich kenne, obwohl sie 200 Jahre vor mir gelebt haben. Und er beschreibt den gesellschaftlichen Umgang mit der Armut, der sich bis heute nicht verändert hat: Die Stigmatisierung der Armen. Auch das bereue ich, in der Vergangenheit nicht mehr gegeben zu haben.

Gestern habe ich den Anfang gemacht und einem Strassenverkäufer ein Surprise abgekauft. Man sah dem Mann seine Not nicht an. Er war im Rentenalter und hielt stoisch seine Magazine in der Hand. In seinem Blick lag nichts Flehendes. Er machte einfach seine Arbeit. Ich entdeckte im Magazin die wunderbare Geschichte von Wagdy El Komy, einem ägyptischen Schriftsteller, dessen Protagonist ein Schengen-Visum erhält und nach einem letzten Besuch in einer Haschischkneipe seine gesamte Bibliothek in 10 Reisekoffer packt, um danach auch den Strassenbelag, «der sich seinen Füssen eingeprägt hat und der ihm teuer geworden war», in einen Koffer zu packen, bis er im Spital landet, da er auch seinen geliebten Bohnen-Imbiss mit nach Europa nehmen wollte und beim Versuch, den Imbisswagen zu stehlen, von der Familie des Bohnenmannes verprügelt wurde… Was für eine wunderbare Geschichte.

Somit hätte ich den Kreis geschlossen: Wer liest und gibt, wird reich beschenkt und hat nichts zu bereuen. Die Bücher lagern inzwischen gut verpackt in einem Depot, bis auf eine Kiste. Mehr über diese Kiste erfahren Sie im nächsten Blog.

Bettina Gugger

Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder ins Unterland verschlagen. Sie ist redaktionelle Leiter vom Newsletter «cültür», der einmal wöchentlich das kulturjournalistische Geschehen über die Sprachgrenzen hinaus kommentiert. Zudem arbeitet sie als freie Kulturjournalistin für diverse andere Medien.
2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und vieles mehr.