Der erste Satz setzt den Ton: Am Anfang war nichts. Was heisst: Kein Wort. Schon gar kein gutes. Kein Himmel als Zuflucht. Keine Erde zum Atmen. Kein Boden unter den Füssen. Nur Albträume eines traurigen Kindes, das bei Märchenfiguren Trost findet und versucht, sich in fremde Biographien zu wickeln und zu verpuppen, um als lebensmüde, einsame, aber wahrnehmungsstarke und begabte Frau zu schlüpfen, die in der Mitte ihres Lebens in einer Art verkürzten Gegen-Genesis beschliesst: In fünf Tagen ist Schluss.
Schluss mit der schwarzen Krake in Kopf und Herz, die wächst und wuchert. Schluss mit dem ganzen Elend. Ich will nicht mehr leben. Ich will ausziehen, aus meinem Körper und dem Haus des Grossvaters, einem «eleganten Bau mit verschlossenem Gesicht» - und verbotenem Keller. Wo Myzel-Substrat gelagert wird. Solange nur die Fruchtkörper des Pilzes in den oberen Stockwerken sichtbar sind, läuft die Geschichte der Amanda Mejier-Favre nach Plan.
Schluss mit der schwarzen Krake in Kopf und Herz, die wächst und wuchert. Schluss mit dem ganzen Elend. Ich will nicht mehr leben. Ich will ausziehen, aus meinem Körper und dem Haus des Grossvaters, einem «eleganten Bau mit verschlossenem Gesicht» - und verbotenem Keller. Wo Myzel-Substrat gelagert wird. Solange nur die Fruchtkörper des Pilzes in den oberen Stockwerken sichtbar sind, läuft die Geschichte der Amanda Mejier-Favre nach Plan.
So heisst die Frau, die ihren Suizid plant. Sie stammt aus Zürich. Jetzt Buchhändlerin, Fribourg. Tochter der Joséphine. Vater: unbekannt. Enkelin der Hermine und des Alois, der vergötterte Grossvater. Ehefrau des Jan, der sie Amandalina oder, abgekürzt, Dalina, nennt. Mutter des Benjamin. Katzenmutter von Caligula. Freundin der Rossini-Schwestern, mit denen sie als Kind so gerne zusammen war:
«Beide Mädchen sprachen Italienisch mit deutschen Einsprengseln wie «Strumpfhose», «Hausaufgaben» und «Schulreise». Sie hatten eine Handschrift, die Amanda mit «richtigen» Mädchen verband. Rund und leicht nach hinten geneigt. Jedes Wort, das die Rossinis aus ihren Füllfederhaltern zogen, sah aus, als könnte es nur unaufgeregte, heile Geschichten erzählen» (Seite 49)
Und dann ist da noch dieser Nachbar, der Amanda beobachtet, Edouard. Seine klebrige Aufmerksamkeit bedrängt sie seit der Primarschule, obwohl er auch damals «…immer sehr aufmerksam und freundlich zu ihr (war) und (in ihrer Gegenwart) die komisch runzlig-feuchten Kinderfinger vor Verlegenheit regelrecht ineinander (verknotete), als könnte er ihre Freundschaft herbeikneten.» (Seite 27)
Als Erwachsener sammelt Edouard alles, was Amanda liegenlässt, eine Obsession, wie die von Kemal im Roman Museum der Unschuld von Orham Pamuk, der tausende Zigarettenstummel von Füsun aufbewahrt, Haarspangen, Salzstreuer, Ohrringe, Kinotickets.
Amandas engste Freunde: E-Zigaretten, viel lieber: richtige Zigaretten, sie raucht Kette, schluckt Benzodiazepine, trinkt Bier und Rotwein, aber vor allem Wodka. Von allem viel. Täglich. Ab dem ersten Kaffee.
«Die leere Flasche hat sie mit letzter Kraft unter das Bett geschubst. Ihre Scham war das einzig Nüchterne an ihr.» (Seite 86)
Es lebe die Tradition! Amandas Grossmutter, Hermine, hat ihr Leben bereits so bewältigt, also gar nicht. Allerdings trank sie Brandy, statt Wodka, und damals nahmen die Leute Valium. Zigarettenmarke: Kent. Sie hat Suizid begangen. Ist in die Schlucht gesprungen. Die Mutter, Joséphine, hat es in der Garage getan. Von der Urgrossmutter, Luise, wissen wir nichts.
Keine guten Vorbilder. Immerhin wurde Amanda ein Name mitgegeben, der die destruktive Frauenlinie lautlich unterbricht: Luise-Hermine-Joséphine. Und dann: Amanda. Die Liebenswerte. Wohl nicht liebenswert genug. Sie schafft es nicht mehr. Noch fünf Tage im Freitod-Forum chatten, keine Ahnung haben, was ihr Mann auf den Geschäftsreisen treibt, der einstmals engen Beziehung mit dem Sohn nachtrauern, sich mit der Mutter seiner Klassenkameradin anlegen, die Chefin der Buchhandlung verärgern, Fragen zur finalen Methode stellen: Pentobarbital? Insulin?
Als die Lösung all ihrer Probleme endlich gefunden scheint, wird es aber nicht ruhiger, im Gegenteil, die Verzerrungen ihres Lebens bäumen sich auf, und es kriechen Lügen hervor wie die Spinnen in den Albträumen des Kindes, die damals zu einer «Traube aus Beinen und Leibern» wurden, zu einer einzigen Spinne also. Wie die von Louise Bourgeois namens Maman.
Ist die Mutter, Joséphine, an allem schuld? Der Text leuchtet transgenerationale Fragen aus und zeigt auch in Richtung Grossmutter, die Gobelins stickt, womit ebenfalls eine Verbindung zu Bourgeois gegeben ist, einer Künstlerin, die verwebt, repariert und Gobelin-Fragmente collagiert. Textile Metaphern für Trauma und Heilung. Ein Ausblick? Vielleicht. Wie die Lektüren von Grossmutter und Enkelin.
Die Grossmutter liest Flauberts Madame Bovary, die das weibliche Scheitern in patriarchaler Umgebung verkörpert, während ihre Enkelin Owens Der Gesang der Flusskrebse bevorzugt und damit ein Narrativ der Selbstbehauptung wählt. Das kann als literarischer Spannungsbogen über Generationen gelesen werden - vom Erleiden zur Emanzipation.
Als all die Beziehungen und Verhältnisse von der so sensiblen wie nervösen Amanda, die alles sieht, hört, riecht, die Welt heranzoomt und dauernd reflektiert, aufgespannt, ausgelotet und psychologisch durchdrungen sind, kommt ihr Sohn, Benjamin, in Begleitung nach Hause. Kurz später nistet sich eine menschliche Spinne im Wohnzimmer ein, die dort und auf der ganzen Welt ihre Eier gelegt hat.
Nun kippt die Situation und legt Amanda einen Schlüssel in die Hand. Die Geschichte nimmt so heftig Fahrt auf, dass es die Leserin ins Polster drückt - bis zuletzt. Die Ereignisse überschreiben Amandas Todessehnsucht. Für immer?
Der hinreissend erzählte Roman erteilt detailliert Auskunft darüber. Er bleibt sich bis zur letzten Seite treu in seiner sinnlichen, geschliffenen Sprache, mit seiner Präzision und den klugen, originellen Wendungen. Das gilt auch für die fein gesponnene Mutter-Sohn-Geschichte, die den Sohn entlässt als gereiften und fürsorglichen Mann, der für eine neue Männergeneration steht. Und weil dies und die behutsame Annäherung an diese Beziehung gelingt, kann das Leben von Amanda als gelungen gelten. Wie dieser Text.
Buch-Vernissge: 11. September 2025, Millers Theater, Mühle Tiefenbrunnen, Zürich, 20h
Andrea Fischer Schulthess. Noch fünf Tage. Roman. Pendragon 2025. ISBN 978-3-86532-912-7 Euro 22 / CHF 33.90

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