11.12.2025 Bibi Vaplan 1 min
Foto: Miriam Küenzli

Foto: Miriam Küenzli

Ich sitze vor einem leeren Blatt. Es wartet auf neue Lieder. Das Projekt ist bereits definiert: Es hat einen Titel, eine Geschichte, die Tour steht, und das Team ist komplett. Es fehlen nur noch die Lieder.

Ich lege meine Hände auf das Klavier, singe etwas, zweifle an jedem Ton, der erklingt, zweifle an meinem Talent, an meinen Visionen und bin überzeugt, nie wieder in der Lage zu sein, einen guten Song zu schreiben. Dann beklage ich mich über diese dummen Gedanken und bin wütend darüber, dass alle denken – Künstlerin sein bedeutet, unter einem Regenbogen Margaritas zu trinken und Süssigkeiten zu essen. Nichts könnte weiter von dieser Vorstellung entfernt sein, gerade in diesen Momenten, in denen ich aus dem Nichts alles erschaffen soll.

Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass ich einen Song schreibe. Deshalb bin ich nicht nur überzeugt, sondern weiss mit absoluter Gewissheit, dass diese Lieder irgendwo sind. Es ist wie ein Puzzle: Aus 1500 Einzelteilen einen Wolkenkratzer oder eine bekannte Stadt zu formen – es braucht Geduld, Disziplin, Zeit und... Vertrauen. Vor allem glaube ich, braucht es Vertrauen.

Während dieses Prozesses, neue Klänge und Melodien zu erschaffen, überkommt mich immer wieder das Gefühl: Die Songs gibt es schon. Sie sind da, noch bevor ich sie schreibe. Sie existieren irgendwo im Äther, schweben dort herum wie die kleinen Schirme der Löwenzahnsamen – unsichtbar treiben sie durch die Luft. Ich bin die Fischerin, die nur die Augen schliessen, zuhören und nach ihnen greifen muss.

Bibi Vaplan

Bibi Vaplan (geboren 1979) ist im Engadin aufgewachsen. Das Klavierstudium an der Zürcher Hochschule der Künste schloss sie 2005 mit dem Lehrdiplom ab. Schon während des Studiums komponierte sie für Filme und Theater (u.a. für Vitus). Stilistische Grenzen waren schon immer ein willkommener Grund, über den Zaun zu schauen. Bibi Vaplans Konzerte und ihre mediale Präsenz, zum Beispiel im «Kulturplatz», bei «Glanz und Gloria» oder auf dem Traktor unterwegs für «Jeder Rappen zählt!» machten die Engadiner Künstlerin schweizweit bekannt. Ihr neuestes Projekt, die «Popcorn-Opera» startete am 6. November 2020.