August 1954: Thomas Mann kehrt erschöpft vom Seespaziergang in sein Hotelzimmer auf der Bel-Etage im Waldhaus Sils zurück. Zimmer 71. Dort er wartet ihn unvermutet sein Sohn Klaus. Dabei ist dieser bereits vor fünf Jahren gestorben. Ist die Begegnung nur ein Traum – oder ein Todesbote?
«Klaus’ Geist ist eine Projektionsfläche für die verborgenen Wünsche und Sehnsüchte, die der Sohn auslebte, der Vater aber nicht», erklärt Regisseur Bernhard Mikeska. Er ist der künstlerische Leiter bei Raum+Zeit, einem deutschen Kunstkollektiv, das sich auf Installationen mit Virtual Reality (VR) spezialisiert hat. Die neuartigen Theaterproduktionen verbinden virtuelle und analoge Realität. Und sie beziehen das Publikum ein, indem der Zuschauer die eigene Rolle reflektiert. In «Der letzte Sommer», das während sechs Tagen im Hotel Waldhaus erlebbar ist, sieht man sich plötzlich mit den innersten Fragen des Lebens konfrontiert.
Ein Spiel mit Perspektiven
Bernhard Mikeska lebt in Berlin, kennt aber Sils und das Hotel Waldhaus von Sommeraufenthalten im Fextal. «Dieser Ort hat mich immer fasziniert», erzählt er. Eine Zusammenarbeit mit dem historischen Hotel entstand auf seine Initiative hin. Während der Corona-Pandemie hat Raum+Zeit die Theaterform mit VR-Brillen entwickelt. Bei «Der letzte Sommer» begegnet der Zuschauer mithilfe von Kopfhörern und VR-Brille eigentlich nur sich selbst und einer Puppe mit einer 360-Grad-Kamera als Kopf. Fiktion und Realität vermischen sich im selben Raum.
Lediglich ein Hotelzimmer ist für die Installation notwendig. Eingerichtet ist es so, als ob man mit dem schlafenden Thomas Mann in einem Raum wäre. In der Mitte des Raumes steht ein Stuhl mit der Kamera-Puppe. Der Zuschauer setzt sich auf einen Stuhl gegenüber, die Anweisungen erfolgen über die Kopfhörer. Es ist ein beklemmendes Gefühl, wenn das Gegenüber befiehlt, sich zu nähern, ihm in die Augen zu schauen, sich wieder zu entfernen. Und doch tut man es. Später sitzt man unvermittelt selbst auf dem Stuhl mitten im Zimmer, sieht sich selbst auf einen zukommen und in die Augen schauen.
Komplexe Vater-Sohn-Beziehung
Sobald die VR-Brille aufgesetzt ist, befindet sich Thomas Mann auch personifiziert im Raum. Gespielt vom Bündner Peter Jecklin, schafft dieser sofort eine intime Situation, welche die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Thomas und Klaus Mann ins Zentrum rückt. Die Produzenten haben sich eingehend mit der Familie Mann beschäftigt. Der Text von Lothar Kittstein hallt nach. Die Dramaturgie von Daniela Guse funktioniert, noch bevor die VR-Brille aufgesetzt ist.
Thomas Mann war oft zu Gast im Hotel Waldhaus. Durch seine Kinder Klaus und Erika Mann entdeckte er das Engadin. «Ihre Leben waren stark geprägt von der fast übermenschlichen Vaterfigur, sie hatten ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm», sagt Bernhard Mikeska. Bei «Der letzte Sommer» kommt vor allem auch die Homosexualität zur Sprache, verdrängt vom Vater, gelebt vom Sohn.
Eine Darbietung der anderen Art
Die für das Hotel Waldhaus massgeschneiderte Produktion wurde 2022 erstmals in Zimmer 71 gezeigt. Die Feedbacks im Gästebuch zeigen, dass das Format gut ankommt. So schrieb jemand: «Eine spannende Erfahrung: Verunsicherung, Herzklopfen, Erstaunen, Begegnung mit mir selbst, aufatmen.» Eine andere Zuschauerin meinte: «Eine Darbietung der anderen Art.»
Das Jubiläum bietet Anlass, die Produktion «Der letzte Sommer» wieder aufzunehmen. Bis zum 12. Juni gibt es täglich Vorstellungen. Ein Slot dauert 20 Minuten. Tickets gibt es auf www.raumundzeit.eventbrite.art.
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