Engadiner Post: Selina Nicolay, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie gesehen haben, dass Sie mit 218 von 218 Stimmen als Gemeindepräsidentin von Bever wiedergewählt wurden?

Selina Nicolay: Ich war einfach sehr erleichtert und positiv überrascht. Es gab ja noch 19 leere Stimmen und zwei ungültige Stimmen, aber ich bin sehr zufrieden mit dem Resultat. Da es keine Gegenkandidatin oder keinen Gegenkandidaten gegeben hat, bin ich davon ausgegangen, gewählt zu werden. Aber dass ich gleich so viele Stimmen erhalte, habe ich nicht erwartet.

Ein so positives Wahlergebnis ist auch eine Bestätigung für die geleistete Arbeit der vergangenen zwei Jahre. Etwas müssen Sie richtig gemacht haben.

(Schmunzelt) Ich denke schon. Aber vor allem motiviert das gute Resultat für die nächsten drei Jahre. Ich habe so viele schöne Rückmeldungen aus der Bevölkerung, aber auch aus der Politik erhalten, die mich sehr gefreut haben. Auch aus den anderen Parteien und von Grossratsmitgliedern aus anderen Regionen kamen Gratulationen. Als SP-Mitglied in einer anderen Partei wahrgenommen und geschätzt zu werden, bedeutet mir sehr viel. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Bevölkerung mit meiner Arbeit zufrieden ist. 

Vor zwei Jahren war die Situation noch eine andere. Damals gab es drei Kandi­dierende für das Präsidium von Bever und Sie verpassten das absolute Mehr um zwei Stimmen. Im zweiten Wahlgang hat es dann klar geklappt. 

Genau. Was ich im Nachhinein immer wieder gehört habe, war, dass die Leute mich nicht gekannt haben. Als SP-Mitglied hat man automatisch einen Stempel und muss sich erst beweisen. Das habe ich in den vergangenen zwei Jahren gemacht. Bei der aktuellen Wahl habe ich öfter die Rückmeldung von Personen erhalten, die mich vor zwei Jahren nicht gewählt haben, dieses Mal aber mit Überzeugung. Solche Rückmeldungen sind für mich sehr schön.

Sie haben kein einfaches Departement übernommen, nämlich Finanzen, Planung Sozialwesen und Gesundheit. Eine herausfordernde Aufgabe?

Ja, vor allem der Bereich Gesundheit. Als Sozialarbeiterin ist für mich der Bereich Soziales am nächsten, die Finan­zen hingegen sind immer herausfor­dernd. Bis jetzt durfte ich zwei positive Jahresrechnungen präsentieren, finan­ziell geht es uns momentan noch gut. 

Als Sie das Amt von Fadri Guidon übernommen haben, was war das für eine Gemeinde?

Eine sehr gut funktionierende Gemein­de. Ich musste keine Baustellen aufräu­men, mein Vorgänger hat mir alles sauber übergeben und ich konnte gut einsteigen. Die Schule funktioniert ebenfalls sehr gut im Moment, mit sehr guten Lehrpersonen und rund 35 Schülerinnen und Schülern. 

Bevor Sie Gemeindepräsidentin wurden, waren Sie bereits ein Jahr lang Grossrätin. Haben Sie von dieser politischen Erfahrung auf kantonaler Ebene profi­tie­ren können?

Das war ein Vorteil. Ich konnte eine gewisse Erfahrung mitbringen. Was auf Kantonsebene läuft, hat auch einen Einfluss auf die Gemeinden. Somit hatte ich einen Überblick, was in den Gemeinden läuft. 

Die Wahl in den Grossen Rat war ja uner­wartet.

Ja, ich hatte zwar immer im Hinterkopf, dass ich irgendwann politisch tätig sein möchte. Dass es dann so schnell gehen würde, hätte ich nicht erwartet. Ohne die Wahl in den Grossen Rat hätte ich den Mut nicht gehabt, als Gemeindepräsidentin von Bever zu kandidieren. 

Wie gut sind Sie auf regionaler Ebene politisch vernetzt?

In den vergangenen zwei Jahren konnte ich mich sehr gut vernetzen. Inzwi­schen kenne ich alle Gemeindepräsi­dentinnen und Gemeindepräsidenten der Region gut und ich habe das Gefühl, dass unsere Zusammenarbeit – so weit es geht – gut funktioniert. Die Strukturen im Oberengadin sind ein anderes Thema, diese funktionieren zum Teil nicht so gut. 

Im Oberengadin gibt es mit Nora Saratz Cazin in Pontresina, Barbara Aeschbacher in Sils und Ihnen nur drei Gemein­de­präsidentinnen in einem sonst männli­chen Umfeld. Prägt das Ihre Beziehung zu den anderen beiden Gemeindepräsi­den­tinnen?

Ja, mit Nora und Barbara arbeite ich sehr eng zusammen. Sie sind auch meine Stützen, ich kann immer anrufen oder schreiben, wenn ich etwas brauche oder nicht weiterkomme. Wir tauschen uns auch privat aus. Zu wissen, dass wir uns gegenseitig unterstützen, ist sehr berei­chernd.

Machen Frauen anders Gemeindepolitik als Männer?

Ich glaube schon. Wir haben einen anderen Umgang miteinander und bringen einen anderen Blickwinkel mit. Wir müssen mehr leisten als unsere männlichen Kollegen, um Aner­ken­nung zu erhalten. So sind wir drei Gemeindepräsidentinnen immer sehr gut vorbereitet, wenn wir an Sitzungen oder Versammlungen gehen. Als erwerbstätige Mütter müssen wir Familie und politisches Amt unter einen Hut bringen. Das funktioniert aber ganz gut, wenn man einen guten Background hat. In meinem Fall unterstüt­zen mich mein Mann und meine Familie sehr. Entlastend sind auch die Tagesstrukturen in Bever, zum Beispiel der Mittagstisch. Und ab und zu geht die Familie einfach vor. 

Im Wahlkampf 2023 haben Sie sich gerade solche soziale Themen auf die Fahne geschrieben – also eine Stärkung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Gemeinde, aber auch bezahlbaren Wohnraum für Einheimische zu schaffen. Was konnten Sie diesbe­züglich bisher umsetzen?

Wohnraum ist immer noch ein extrem brisantes Thema. Ich würde mir wünschen, dass es schnellere Lösungen geben würde. Wir haben noch zwei gemeindeeigene Parzellen, auf denen wir gerne Wohnraum für Einheimische schaffen würden. Aber ich musste in den vergangenen zwei Jahren lernen, dass die Mühlen im öffentlich-rechtlichen Bereich sehr langsam mahlen, was sehr frustrierend ist. Immerhin haben wir jetzt im Gemeindehaus eine 4,5-Zimmer-Wohnung und ein Studio geschaffen. Manchmal muss man vielleicht kleinere Brötchen backen. Wir bleiben am Thema dran.

Welche anderen Themen werden Sie als Gemeindepräsidentin von Bever in der zweiten Amtszeit beschäftigen?

Bei der Inn-Revitalisierung wird der nächste Teil bis La Punt realisiert, dort sind wir mit einem kleinen Stück Land beteiligt. Das nächste Projekt ist die Revitalisierung des Beverin vom Bahnhof abwärts Richtung Inn. Und dann gibt es noch ein Hochwasserschutzprojekt vom Bahnhof aufwärts. Ausserdem beschäftigt uns immer noch das Fernwärmenetz-Projekt. Auch hier läuft es sehr schleppend, aber ich hoffe, dass wir bald zu einem Ziel kommen. Sonst müssen wir das Projekt beerdigen.

Vor Kurzem wurden Sie als Präsidentin der Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin gewählt. Hand aufs Herz, wie lange mussten Sie überlegen, um dieses Amt anzunehmen?

Ich habe fast drei Monate überlegt, bis ich zusagte. Ich höre stark auf mein Bauchgefühl, irgendwie reizt mich diese Herausforderung. Erstens interessiert sie mich, und zweitens kann ich bei diesem Amt sehr viel lernen. Die Gesundheitsversorgung liegt mir sehr am Herzen. Sie betrifft uns alle. Zudem ist die SGO mit über 550 Mitarbeitenden eine der grössten Arbeitgeberinnen der Region, wenn nicht die grösste. Ich möchte meine Kräfte dafür einsetzen, das Bestmögliche für die SGO zu erreichen. Die Abstim­mungen über die Übergangsfinan­zierung des Spitals im November sind schon bald, bis dahin gibt es für uns sehr viel Arbeit und je nachdem, was passiert, auch danach. 

Was können Sie als Präsidentin der SGO bewirken?

Ich gehe die direkte Kommunikation an mit den Mitarbeitenden und mit der Bevölkerung. Wir haben beim letzten Mal nicht alles falsch gemacht, aber die Kommunikation in Hinblick auf die Abstimmung und das weitere Vorgehen können wir verbessern. Ich bin nicht allein an der Spitze der SGO. Ich sagte vor der Wahl, dass ich das Amt übernehme, wenn ich jemand Starkes an meiner Seite habe. Mit Nora Saratz Cazin habe ich eine Vize-Präsidentin, die mich unterstützt, mit der ich mich austauschen kann und die mit mir zusammen den Kopf hinhält. 

Haben Sie bereits einen Plan B, falls die Übergangsfinanzierung des Spitals nicht angenommen wird?

Ja, wir sind momentan damit beschäf­tigt, mögliche Pläne auszuarbeiten, die bei einem Nein zum Tragen kämen. In den nächsten Wochen können wir mehr dazu sagen.