Am frühen Morgen lag noch Nebel über dem Dorf. Auf den Weiden grasten die Schafe, welche mit ihren Lämmern schon heimgeholt worden waren. Gegen halb elf war es so weit. «Sie kommen», wurde von Mund zu Mund dorfaufwärts weitergereicht. Dann waren sie da: 770 Schafe und eine Ziege drängten sich durch die Ftaner Gassen, angeführt von Hirte Damian Bänziger und einigen Kindern. Trotz Frühstück auf den Wiesen vor dem Dorf büxten beim Anstieg nach Ftan Pitschen einige Schafe aus, um noch einmal in ein paar saftige Gräser zu beissen.
Dann ging alles schnell. Die Bauern sammelten die Tiere ein und stellten Gitter auf. Untermalt wurde die Szenerie von drei Alphornbläsern, eine Festwirtschaft und ein kleiner Markt trugen zur Stimmung beim Anlass bei. Doch vorerst Schafe, so weit das Auge reicht, umringt von Menschen. Ob es mehr Schafe oder Menschen waren, ist nicht bekannt, denn gezählt wurden nur die Schafe.
Auch ein bisschen Glück
Ein paar wenige würden fehlen, sagt Damian Bänziger später. Auch die Lämmer, die ab Anfang September auf die Welt kämen, überlebten nie alle. Für den Hirten ist das Realität, oder schlicht der Lauf der Natur. Die starken überleben, setzen sich durch, erhalten damit ihre Art. «Nur die Menschen pflegen sich zu Tode», sagt er.
Aber Bänziger und seine Schafe hatten eine gute Saison. Seit dem 10. Mai waren sie unterwegs, langsam das Val Tasna hinaufziehend. Zwei Herdenhunde begleiteten sie, und auch nachts wurden Zäune aufgestellt. Der Wolf sei ferngeblieben, sagt Bänziger. «Es braucht ein Miteinander von Menschen, Herdenhunden, Schutzzäunen und Abschüssen, um den Wolf fernzuhalten, und natürlich auch etwas Glück.» Der 32-Jährige aus dem Kanton St. Gallen ist zum zweiten Mal für die Ftaner Bauern unterwegs. Das Hirtenleben ist seine Arbeit. Er liebt es, den Schafen zuzusehen, ihr Verhalten zu beobachten. Und er kennt sie Ende Saison alle, einige haben sogar Namen.
Sein Schaf Glüna war dabei und die Ziege Alina, die er von einer Freundin mitgenommen hatte. Meistens war er allein mit den Tieren. Ab und zu halfen die Bauern. «Wenn du nicht gerne allein bist, bist du als Schafhirt am falschen Ort», sagt er. «Mit Damian haben wir einen guten Hirten gefunden», sagt Arno Nuotclà, Präsident der Ftaner Schafbauern. Es sei zunehmend schwierig, Hirten zu finden. Die Arbeit sei streng und die Saison lang. Ganz zu Ende ist sie übrigens noch nicht. An der Zavranza werden die auswärtigen Schafe aussortiert und von ihren Besitzern heimgenommen. Die Ftaner Schafe werden noch bis am 1. November mit Damian Bänziger Richtung Motta Naluns ziehen.
Auf den Arm genommen
Das Aussortieren der Schafe ist Schwerstarbeit. Die Bauern suchen ihre Schafe aus und treiben sie in die vorbereiteten Gitter. Da muss schon mal hart zugepackt werden. Immer wieder nimmt ein Bauer ein zappliges Fellbündel auf den Arm, wobei ein Schaf gut und gerne über 50 Kilogramm wiegen kann. Die Zeit schreitet voran, die Sonne steht hoch über der Lischana-Gruppe, nun schwitzen auch die Zuschauenden. Doch noch immer sind sie fasziniert, suchen ihr Schaf oder wollen einfach einmal in die Wolle greifen. Die Schafe schauen neugierig und lecken auch mal an einer Kamera, die ihnen zu nahe kommt. Ein weisses Alpenschaf versucht durch das Gitter an einen Eimer Brot zu kommen, hat seinen Kopf aber eine Stange zu hoch durchgestreckt. Arno Nuotclà ist dauernd in Bewegung. Mal hilft er ein Schaf zu bändigen, mal ergänzt er seine Liste, um zu kontrollieren, ob die Bauern ihre Tiere beieinander haben.
Die über 700 Tiere gehören acht Ftaner Bauern und fünf auswärtigen, drei davon aus Graubünden, zwei aus dem St. Galler Rheintal. Nuotclà selbst hat 20 Schafe. Die Schafzucht sei für die meisten ein Teilzeiterwerb, sagt er. Verdient wird hauptsächlich am Lammfleisch. Die Hauptrasse sei das weisse Alpenschaf. Doch auch einige Saaser Mutten und schwarze Bergschafe sind dabei, ausserdem Spiegelschafe, eine Bündner Rasse, erkennbar an den dunklen Flecken um die Augen. Dieses Jahr habe es auch vier Engadiner Schafe, sagt Bänziger und bedauert, dass es nicht mehr sind.
Nach fünf Monaten unter Schafen ist für ihn heute ein spezieller Tag. Er hilft beim Sortieren, nimmt immer wieder den Dank eines Bauern entgegen und sagt fast erleichtert. «Es ist noch nicht fertig.» Bald schon wird er mit dem Rest der Herde wieder losziehen, wenn auch nur bis Ende Monat. Barbara Esther Siegrist
Text und Bilder: Barbara Esther Siegrist
Text und Bilder: Barbara Esther Siegrist







Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben