Gemeinden sind mehr als Grenzen auf einer Karte und mehr als Verwaltungseinheiten. Sie sind soziale Gefüge, gewachsene Lebensräume, Orte der Demokratie und der gelebten Solidarität. Doch vieles, was früher selbstverständlich war, scheint ins Wanken zu geraten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, nicht nur im Grossen, sondern auch im Kleinen – in unseren Dörfern und Talschaften. In einer Zeit, in der Individualität hochgehalten wird und die persön­liche Freiheit über alles gestellt wird, verliert der Gemeinschaftssinn an Festigkeit. Vereine, die jahrzehntelang das Rückgrat des dörflichen Lebens bildeten, finden immer schwerer Mitglieder. Freiwilliges Engagement wirkt für viele eher als Pflicht statt als Bereicherung. Auch die Nachbarschaftshilfe hat sich verändert: Sie funkti­oniert heute anders – professi­oneller organisiert, oft aber weniger selbstverständlich, weniger spontan als früher.

Entsolidarisierung ist Fakt
Diese Entwicklung wäre schon für sich Grund genug, genauer hinzuschauen. Doch im Engadin gibt es zusätzliche Spannungen, die aktuell besonders sichtbar sind. Die Debatten um die Zukunft des Spitals Oberengadin oder den Ausbau des Regionalflughafens Oberengadin zeigen, wie schnell regionale Interessen auseinanderdriften können. Gemeinden, die zusammenstanden, ringen plötzlich hart um eigene Positionen. Entsolidarisierung ist kein theoretisches Konzept mehr, sondern reale Erfahrung. 

Genau deshalb widmet die «Engadiner Post/Posta Ladina» der Institution Gemeinde und ihrer Bedeutung eine Schwerpunktwoche. In drei Ausgaben beleuchten wir, was politisch, gesellschaftlich und kulturell trägt – oder eben zu zerfallen droht. 

Drei Ausgaben, drei Perspektiven
Am kommenden Dienstag steht die politische Perspektive im Zentrum. Wir fragen, ob sich heute überhaupt noch Menschen finden, die Verantwortung übernehmen wollen – und wie Gemein­den mit den wachsenden Anforderun­gen umgehen. Transpa­renz, Fusionsfragen, Autonomie: Wir ordnen ein, wie gut Gemeinden für die Zukunft gerüstet sind.

Am Donnerstag richten wir den Blick auf das soziale Gefüge. Was hält eine Gemeinde zusammen? Wie funktio­niert Nachbarschaftshilfe im Jahr 2025? Welche Rolle spielen Vereine, Traditionen, Kirch- und Bürgergemeinden? Und wie gelingt Integra­tion in einer Region, in der viele nur zeitweise leben?

Am Samstag schliesslich geht es um die Zukunft. Wie gewinnen Gemein­den Menschen, die bereits sind, sich zu engagieren? Welche Herausforde­rungen nennen sie selbst – vom Klimawandel bis zur Wohnungsnot? Und wie sieht die nächste Generation ihre Rolle: als Rückkehrende, Bleibende oder Wegziehende? Zusätzlich beleuchten in jeder Ausgabe drei externe Autorinnen und Autoren ihre Sichtweise zu diesem Thema. 

Mehr Solidarität, nicht weniger
Warum dieser Schwerpunkt jetzt? Weil Gemeinschaft kein Selbstläufer ist. Sie entsteht nicht automatisch, sondern braucht Engagement, Vertrauen und die Bereitschaft, über die Gemeindegrenzen hinaus zu denken. Die aktuellen Diskussionen im Tal führen uns vor Augen, wie verletzlich das Gemeinsame geworden ist. Gerade deshalb braucht es heute mehr Solidarität, nicht weniger. Mehr Miteinander, nicht mehr Abschottung. Mehr Bereitschaft, Verantwortung zu teilen.

Eine Region funktioniert nur, wenn ihre Gemeinden zusammenstehen. Wenn sie Konflikte nicht scheuen, aber Lösungen suchen. Wenn sie Vielfalt zulassen, aber das Gemeinsame nicht aus den Augen verlieren. Unsere Schwerpunktwoche soll beitragen, dieses Bewusstsein zu stärken – indem sie zeigt, wo wir stehen und wohin wir gemeinsam gehen könnten.

Autor: Reto Stifel
Foto: Mayk Wendt