Ihr Vater war während der Saison Stallmeister im Hotel Palace in St. Moritz, ihre Mutter kümmerte sich um die Kinder und bewirtschaftete den Hof in Chamues-ch gemeinsam mit einer italienischen Magd. «Ich hatte liebevolle, fürsorgliche und fleissige Eltern», erzählt Margaritta Salzgeber. Sie sitzt in der gemütlichen Stube ihrer «chesina da lain», einem Haus im Chalet-Stil mitten in S-chanf. Draussen schneit es, drinnen dampft ein selbst hergestellter Tee in Porzellantassen. Margaritta Salzgeber erinnert sich gerne an ihre Kindheit. Sie erzählt vom Vater und er die Kinder und Pferde sehr gern hatte. Wie er im Winter beim Holzen gleich noch die Schlittelbahn machte und wie seine gelegentliche Heimkehr mit dem Palace-Wagen am Küchentisch gefeiert wurde. Zunächst fuhr er nämlich die überwiegend englischen Gäste vom Bahnhof St. Moritz mit der Pferdekutsche zum Grandhotel, später dann war er Chauffeur im Automobil. Im Stall der Familie Caviezel in Chamues-ch gab es Kühe, Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner und das Pferd Martina. «Martina wurde auch beim Heuen eingesetzt, und wir Kinder durften beim Heutransport auf ihrem Rücken sitzen», so Margaritta Salzgeber. Sie ist mit drei Geschwistern aufgewachsen, sie war die Jüngste. «Ich wurde sicher verwöhnt», meint sie lachend.

Wäsche waschen noch am Brunnen
Chamues-ch war in den Dreissiger- und Vierzigerjahren ein kleines Bauerndorf. Frühmorgens sammelte der Ziegenhirte - Margarittas Bruder - alle Ziegen im Dorf mithilfe des «corn», des Blashorns, und zog mit ihnen nach Müsella. Je nach Anzahl der Ziegen erhielt der Ziegenhirte mehr oder weniger Verpflegung. «Ab und zu musste ich ihn begleiten, was ich sehr ungern tat. Ich hatte immer grosse Angst, die Tiere zu verlieren», erzählt Margaritta Salzgeber. Doch ihr Bruder habe sie stets mit den Worten beruhigt: «Wenn ich den Ziegen beim Abholen in die Ohren beisse, bleiben sie bei mir.» Die Kinder halfen zu Hause immer mit, die Brüder im Stall, die Schwestern im Haushalt. Wasser zu holen war eine Aufgabe der Jüngsten. Bis Margaritta das Haus für die Ausbildung verliess, gab es kein fliessendes Wasser im Haus. Die Tiere wurden abends am Brunnen getränkt, bewacht von den Kindern. Auch die Wäsche wurde noch am Brunnen gewaschen. Eingeweicht wurde sie mit «Henka» in der Küche. Für die Wäsche konnte auch eine Wäscherin engagiert werden. «Aufgehängt wurde die Wäsche draussen, und wenn es sehr kalt war, hing sie mehrere Tage, bis sie trocken war». 

Im Zug in der 1. Klasse sitzen
Margaritta Salzgeber ist 1936 geboren. Die Primarschule besuchte sie in Chamues-ch, mehrere Klassen wurden in einem Raum gemeinsam unterrichtet. Die zwei jungen Lehrer hatten ein Pensionszimmer im Haus der Familie Caviezel. Die Sekundarschule befand sich dann in Bever. Täglich ging es mit der Rhätischen Bahn ins Nachbardorf. «Einer der Schaffner, liess uns Mädchen ab und zu in der 1. Klasse sitzen», erinnert sich Margaritta Salzgeber lächelnd. Sie erzählt von den Firmen Trepp und Casparis, bei denen man Säcke mit Zucker, Reis, Polenta, Teigwaren oder Roggen, aber auch Stoffe bestellen konnte. Der Vater holte die Ware zwei Mal im Jahr am Bahnhof ab und lieferte sie dann im Dorf aus. «Mein Vater wäre gerne Kaufmann geworden», erzählt sie. Er kam aus Sent und war sogar zu Ausbildungszwecken eine Zeit lang in Italien gewesen. Aus familiären Gründen musste er aber seinen Berufstraum aufgeben. «Mein Vater war sehr kultiviert und lehrte uns Respekt und Manieren», sagt die Tochter. 

Das Brummen der Bomber
Als der Krieg ausbrach, hatte der Vater plötzlich keine Arbeit mehr im Hotel Palace. Er übernahm fortan verschie­dene Aufträge, darunter Transporte. Die Kriegszeit verbindet Margaritta Salzgeber vor allem mit einem unheimlichen Geräusch – dem Brummen der Bomber nachts. Lange habe sie die Ängste, die aus der Kriegszeit stammen, verdrängt. Sie spreche heute lieber über die schönen Erinnerungen. Dazu gehört auch ihre Ausbildungszeit. Nach der Schule wusste Margaritta bereits, dass sie – wie ihre Mutter – Handarbeitslehrerin werden wollte. «Meine Mutter hatte auf Anfrage der Gemeinde S-chanf die halbjährige Ausbildung als Handarbeitslehrerin absolviert und arbeitete in diesem Beruf, bis sie geheiratet hat.» Zwei Jahre musste Margaritta zunächst überbrücken, bis sie die Ausbil­dung in Chur beginnen konnte. Ein Jahr war sie als Haushaltslehrtochter im Kanton Aargau, ein Jahr in Lausanne. Eine Blinddarmoperation mit anschliessender Infektion zwang sie zu einem längeren Spitalaufenthalt. «Das war eine harte Zeit, in der ich mich einsam gefühlt habe», erinnert sie sich. Als sie mit 18 Jahren endlich die Ausbil­dung in Chur beginnen konnte, hängte sie nach der Handarbeitslehrerin gleich noch die Hauswirtschaftslehrerin an.


240 Mädchen unterrichten
Im Internat in Chur hat Margaritta Salzgeber eine Freundin fürs Leben gefunden und das Rüstzeug erhalten, um zunächst im Kanton Thurgau und später im Engadin unterrichten zu können. Es gab kaum Freizeit, nebst der Schule mussten die jungen Frauen viel arbeiten. Drei Jahre dauerte die Ausbildung. In ihrer ersten Festanstellung im Kanton Thurgau hat sie 240 Mädchen unterrichtet – und gut dabei verdient. «Mit meinem ersten Lohn bin ich stolz nach Hause gekommen, wollte etwas zurückzahlen, aber der Vater bestand darauf, dass ich das Geld für mich spare.» 
Der häufige Nebel im Thurgauischen Winter und das damit verbundene Heimweh liessen die junge Frau ins Engadin zurückkehren, wo sie eine Stelle in Samedan antrat. 

Ein hartnäckiger Verehrer
Der Liebe begegnete sie auf einem Ball in S-chanf. Zu dritt seien sie mit ihrem blauen VW-Käfer von Chamues-ch nach S-chanf gefahren und hätten sich geschworen, während des Balls zusam­menzubleiben und gemeinsam wieder nach Hause zu gehen. So blieb dem guten Tänzer Florian Salzgeber nichts anderes übrig, als um Mitternacht alle drei jungen Frauen zum Kaffee einzuladen. «Tras-cha da cafè» nannte man den letzten Tanz vor der Pause, die einzig dafür da war, dass sich die jungen Leute nach dem Tanzen besser kennenlernten. 
Hartnäckig habe der Zimmermann aus S-chanf danach um sie geworben, erinnert sich Margaritta Salzgeber. Im Herbst habe es dann bei einer Ausfahrt über dem Albulapass auch bei ihr gefunkt. «Jede Woche schrieben wir uns während der Verlobungszeit einen Brief», erzählt sie. Ihr Mann habe zu dieser Zeit eine Ausbildung als Bauführer gemacht, erst danach, 1962, hätten sie geheiratet.

«Der Garten ist wie Therapie»
Nach der Hochzeit gab Margaritta Salzgeber ihren Beruf auf und zog nach S-chanf. Fünf Kinder gebar sie und war für deren Erziehung zuständig, führte den Haushalt, kochte, machte Handarbeiten und kümmerte sich um die Zimmer der Arbeiter im Haus. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, half sie einer Familie in S-chanf während 20 Jahren mit der Erziehung von Drillingen. 
Wichtig war Margaritta Salzgeber immer der Garten. «Nach einem langen Tag die Hände in die Erde zu vergraben, war für mich das Schönste, das war wie Therapie», sagt sie. Auch heute noch sind Pflanzen sehr wichtig in ihrem Leben. Sie bezeichnet sich selbst als «Kräuterhexe», stellt aus selbst getrockneten Pflanzen Kräutersalze, Tees, Tinkturen und Salben her. «Ich verschenke meine Produkte, denn würde ich sie verkaufen, hätten sie keinen grossen Wert mehr», meint sie. 
Im Wald sammelt Margaritta Heilpflanzen. Mit dem Auto fährt sie zum Waldrand und zieht von dort aus los. 1961 hat sie die Autofahrprüfung bestanden. «Autofahren bedeutete für mich immer Unabhängigkeit», sagt Margaritta Salzgeber. Umso schwieriger sei ihr der Entscheid gefallen, jetzt den Führerausweis abzugeben. Die Augen sind nicht mehr fit genug. 
16 Enkelkinder und vier Urenkelkinder hat Margaritta Salzgeber inzwi­schen. Ihr Mann ist vor sieben Jahren verstorben. Seit 1995 lebt sie bereits im Holzchalet, in dem sie auch ihre Pflanzen trocknet und verarbeitet. Freude hat sie, dass sich eine junge Frau für ihre Pflanzenkenntnisse interessiert, sie beim Sammeln begleitet und beim Trocknen und Verarbeiten über die Schulter schaut. Ihr kann sie nun das jahrelang autodidaktisch erworbene Wissen weitergeben. «Das gibt mir ein gutes Gefühl.»
Autor: Fadrina Hofmann
Foto:  Franziska Barta