11.03.2024 Bettina Gugger 5 min
Der abgesenkte Thunersee vom Schaudaupark aus fotografiert. Foto: Bettina Gugger

Der abgesenkte Thunersee vom Schaudaupark aus fotografiert. Foto: Bettina Gugger

Die Philosophin Ariadne von Schirach hat mich mit ihrem Buch «Glücksversuche», das ihre Kolumnen der letzten zehn Jahre auf welt.de versammelt, zum Schreiben von Listen inspiriert. (Interview mit Ariadne von Schirach siehe «EP/PL» vom 2. November 2023) Aufschreiben, was glücklich macht, macht glücklich. Aufschreiben, wofür man dankbar ist. Ich habe auch begonnen, Listen zu erstellen, worauf ich mich freue oder wonach ich mich sehne. Letzteres mag einen eventuell wieder ein Stück vom Glück entfernen, weil man dann nicht mehr im Jetzt lebt und das Glück ist bekanntlich nur da zu finden, denn in der Zukunft sind wir immer nur gedanklich. Ich mag aber den Moment, wenn ich nach Monaten auf die alten Listen schaue und feststelle: Nichts davon hat sich erfüllt, stattdessen traten ganz andere Dinge in mein Leben; wenn erhoffte Begegnungen ausblieben, ergaben sich an dieser Stelle neue, beglückende Kontakte. Und dieser spielerische Abgleich von Wunsch und Wirklichkeit erinnert mich jeweils daran, wie gut es ist, nichts zu wollen, mal abgesehen von den vernünftigen Dingen, nach denen man zwecks Erhaltung des eigenen Wesens und der gesamten Art (in Form von moralischen Grundsätzen) streben sollte. Etwas stand nicht auf meiner «Worauf-ich mich-im-Unterland-freue-Liste», weil ich es nicht hatte wollen können, denn es handelt vom Nichts-Wollen. 

Auf einer Parkbank sitzen. Einfach nur so zu sitzen, in einem Park, den Blick in die Weite gerichtet oder auf die 4000er des Berner Oberlandes, die Gedanken fliessen lassen, vielleicht eine Notiz ins Handy tippen – «Eiger, Mönch, Jungfrau, der ganze weiss gepuderte Plunder, jahrtausendalte tektonische Verschiebungen, heute Touristenattraktion, Einnahmequelle und immer noch Mahnmal der Demut: Hier hat deine Kraft Grenzen mein Freund…» (Später wird mich der «Plunder» stören. Oder spielt der Plunder auf die Vermarktung der Plattenverschiebung, auf den vermeintliche Gipfelsturm, die anmassende Aneignung der Natur, die Beschneiung von Skipisten an?) Das soll im Moment auch keine Rolle spielen. Ich geniesse einfach nur das Sitzen.

Nun werdet Ihr sagen oder Sie, falls wir uns siezen, was ich sehr gerne mag: «Und deswegen ziehst du (Sie dürfen mich duzen) ins Unterland? Wir haben doch auch Bänke! Erst noch mit Strohbesen ausgestattet, damit der Hosenboden trocken bleibt und nicht schmutzig wird. Ist es wegen den 4000ern am Horizont? Hast du aus Taktgefühl etwas von Kulturberichterstattung gefaselt und meintest eigentlich etwas ganz anderes? Eiger Nordwand, he?» Nein, nein, der Eiger ist mir ganz gleichgültig. Ich mag auch seinen Namen nicht. Klingt nach einem steifen Banker, der einen mit seiner Risikobereitschaft in den Abgrund reisst. Bei meinem Sitzen darf die Ruhe nicht vollkommen sein. Im Engadin ist sie beinahe vollkommen. Ich weiss, das klingt nach schwerster narzisstischer Persönlichkeitsstörung im Stil von «Ich muss dich verlassen, weil ich dich so sehr liebe: Du bist einfach zu gut für mich.» 

Menschen müssen an meiner Bank vorbei gehen. Und ich will mir ausmalen, aus welchem Leben sie gerade kommen, wohin sie gehen, was sie müssen und was sie nicht wollen. Im Engadin sind die Temperaturen zum Parkbanksitzen meist zu tief. Und während der Sommermonate haben die Vorübergehenden tendenziell nur eine Mission: Wandern. Wandervögel eigenen sich nicht fürs Face-Watching, in der Gruppe sehen alle gleich aus. (Wenn ich nicht sitze, wandere ich übrigens sehr gerne, aber darüber ein anderes Mal.)

Es sind Details, die mich in ihren Bann ziehen, eine Aktentasche, elegantes Schuhwerk – in einem Park unterstreicht es die Verletzlichkeit des Trägers, immer wieder Hundebesitzer und ihre Art mit ihrem Tier zu sprechen. Und dann kommt es vor, dass man sich so langsam loslöst aus dem eigenen Kosmos. Man streift die eigene Identität ab mit all den Geschichten und blickt ganz verwundert in die fremden Gesichter, die für einen Moment ebenso der Welt enthoben sind. Und in genau diesem Moment entsteht ein Zauber. Für ein Bruchteil einer Sekunde ist alles möglich: Plötzlich ist man wieder 17 oder bereits 80 oder man ist 3000-jährig, taucht direkt aus der Bronzezeit auf, nach deren Zeichen Taucher im Thunersee suchen, weswegen der See gar abgesenkt wurde. Zu welchen Göttern habe ich gebetet? Wie habe ich meine Krankheiten geheilt? Wie hiessen meine Kinder? Habe ich jemals geliebt? Und dann immer tiefer in sich hineinsitzen, bis sich die Stille wieder dreht und man langsam wieder auftaucht, nicht sicher, ob man sitzen bleiben oder weitergehen soll. Wie köstlich ist dieser Moment des Zögerns. Zu entscheiden, ob man aufsteht oder verharrt, als ob alles davon abhinge. Die Schwere des Körpers fühlen. Die Trägheit des Geistes. Den ketzerischen Wunsch verspüren, nicht immer entscheiden zu müssen, obwohl doch gerade das Mass der täglichen Entscheidungen unsere Freiheit bestimmt. Nur Sklaven und Superreiche müssen nichts entscheiden. 

Ich werde jetzt eine Liste der Parkbänke erstellen, auf die ich mich diesen Frühling am meisten freue. Die Evaluation erfolgt in drei Monaten. 

Bettina Gugger

Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet. 2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.