Die Streckengeleise der Rhätischen Bahn zwischen Cinuos-chel/Brail und dem Zernezer Weiler Carolina sind knapp 40-jährig und erneuerungsbedürftig. Die Schienen müssen ersetzt und längs miteinander verschweisst, die alten und auch qualitativ nicht mehr zeitgemässen Stahlschwellen ausgewechselt und der Schotter gereinigt, ausgesiebt und mit neuem Gestein vermischt wieder unter die Geleise gebracht und verdichtet werden.
Es sind aufwendige und laute Arbeiten, die nur nachts und in einem engen Zeitfenster unter entsprechendem Zeitdruck ausgeführt werden können. Arbeiten, die nicht nur dem Fahrkomfort der Zugsreisenden am nächsten Tag dienen, sondern der Bahninfrastruktur die nötige Sicherheit und Dauerhaftigkeit gewährleisten. Mindestens für die nächsten 50 Jahre haben Anwohner nun wieder Ruhe, abgesehen von dem turnusgemäss etwa alle sechs Jahre stattfindenden neuerlichen Stopfen der Schotterschicht, dem Grampen.

Lesen Sie hier die Reportage der Nachtarbeiten am Gleis:

Wenn die Nacht zum Tag wird

So viel Verkehr wie gegenwärtig hat der Bahnhof Cinuos-chel schon lange nicht mehr gesehen. Sobald es dunkel wird, fahren von Zernez und von S-chanf herkommend zwei grosse gelbe Schalke-Dieselloks der RhB vor. Sie bringen einerseits die Maschinenkomposition der Gleisbaufirma Sersa und andererseits mit Schwellen und Schottersteinen beladene Güterwagen nach Cinuos-chel/Brail. Hier werden die Züge zu einer 210 Meter langen Maschinenkarawane zusammengestellt und für die Nachtschicht vorbereitet.
Gegen halb elf, wenn der zweitletzte Passagierzug den Bahnhof passiert hat, setzt sich der hell beleuchtete Tatzelwurm in Richtung Zernez in Bewegung. Es regnet, und entgegen den optimistischen Prognosen, wird es bei kühlen drei Grad Celsius die ganze Nacht durch weiterregnen.
Die 16 Gleisbauer und eine, einzige Gleisbauerin der Firma Sersa sowie eine Handvoll Arbeiter des RhB-Bahndienstes scheint das nasskalte Wetter indes wenig abzuschrecken. Zu fokussiert sind sie auf die anstehenden Arbeiten, wo in einem fix vorgegebenen, engen Zeitfenster alle Hand in Hand arbeiten müssen um den heutigen, 120 Meter langen Streckenabschnitt kurz vor dem Inn-Viadukt bei Cinuos-chel pünktlich fertigzustellen.

Arbeiten in knappem Zeitfenster
Noch haben die Arbeiten nicht richtig begonnen, als oben auf der Engadinerstrasse der Ersatzbus der letzten Bahnverbindung vorbeifährt. Nur dank der Verlagerung der letzten Zugsverbindung auf die Strasse bekommen die Gleisarbeiter das benötigte Zeitfenster für die nächtliche Bauetappe. Und die Zeit ist knapp, bereits gegen fünf in der Früh muss der erste Güterwagen die Strecke zwingend wieder passieren können.
Gleich vier Kaderleute der RhB und Gleisbaufirma nutzen die Gelegenheit und besuchen ihrerseits die Baustelle in dieser unwirtlichen Nacht. Thomas Gasner ist einer davon. Er ist Leiter Bahndienst Süd und verantwortlicher Ingenieur für die Bahnmeister der Bezirke Albula, Engadin und Bernina und führt durch die langgezogene Baustelle. «Es lastet ein grosser Druck auf den Leuten, morgens auf Zeit fertig zu sein und die Strecke wieder freigeben zu können um Verspätungen im Fahrplan auszuschliessen», sagt er und schliesst den Reissverschluss seiner dicken Jacke bis zum Anschlag. Eine Schicht wegen technischen Problemen oder klimatischen Bedingungen ausfallen zu lassen, kostet die RhB rund 50 000 Franken und bringt erst noch das minuziös und auf Jahre hinaus geplante Arbeitsprogramm des Gleisunterhalts durcheinander. Für dieses zeichnet Ruedi Kienast, Leiter Planung und Disposition der RhB, verantwortlich. Vor Schichtbeginn hat er im Wartesaal des Bahnhofs die «Planungsbibel» auseinandergefaltet, ein fast zwei Meter langes Faltblatt, das «Strickmuster» der Arbeitsplanung, wie er es nennt. «Alle Bauteile die 25 Jahre im Wetter sind, werden auf Verschleiss hin begutachtet, mit den Meldungen der Bahnmeister kombiniert und wenn nötig in die Jahresplanung der nächsten drei bis vier Jahre aufgenommen.» Rund 13 Millionen Franken kann Kienast jährlich in die Gleiserneuerung investieren.
Auch die Gleiserneuerungsarbeiten zwischen Cinuos-chel und Carolina wurden von langer Hand geplant. Vor zwei Jahren wurden die Details begutachtet und im letzten Jahr flankierende Massnahmen getroffen und Kabelanlagen, Bankette oder Wasserabläufe erstellt. Diesen Sommer werden auf dieser Strecke 4684 neue Betonschwellen, 97 Stück Schienen à 60 Meter und rund 3000 Kubikmeter Schotter eingebaut, ehe im nächsten Jahr die Abschlussarbeiten stattfinden.

Räderwerk der Gleiserneuerung
Derweil hat sich draussen die Maschinenkarawane in die Länge gezogen. Grelles Scheinwerferlicht macht die Nacht zum Tag, beleuchtet das emsige Treiben auf der Baustelle und macht den Regen auch sichtbar.
Mit einem Schneidbrenner trennt ein Gleisbauer unter grossem Funkenschlag alle 15 Meter die alten Geleise entzwei. Der Lokführer setzt daraufhin die brummende Diesellok samt leeren und mit neuen Schwellen beladenen Güterwagen und der Gleisbaumaschine zurück, ein Förderband mit unzähligen Greifern fährt aus der Maschine, senkt sich, greift den Schienenrost und reist diesen scheinbar mühelos aus dem Schotter heraus. Über ein ausgeklügeltes Förderbandsystem wird der Rost auf einen der offenen Güterwagen verfrachtet.

«Spinne» und Schotterreinigung
Die gleichen Greifer packen beim zurücksetzen die neuen Betonschwellen und setzen diese im vorgegebenen Abstand auf das eben freigewordene Trassee auf die alte Schotterschicht. Kaum sind die Schwellen ausgerichtet, packt hinten die «Spinne», ein kleiner motorisierter Helfer mit zwei langen, seitlichen Greifern die beiden neben der Strecke liegenden, 60 Meter langen Schienenstränge und hievt diese nach und nach auf die Schwellen. Die Gleisarbeiter helfen mit langen, schweren Eisenstangen nach, positionieren die Schienen millimetergenau und schrauben diese anschliessend auf den Schwellen fest.
Jetzt kommt das zweite Ungetüm zum Einsatz, die Schotterreinigungsmaschine. Eine schnell rotierende, zackenbewehrte Eisenkette gräbt die Schotterschicht unter dem neuen Geleise heraus und befördert das ausgegrabene Material ins Innere der Maschine, wo es über drei verschiedene Siebe aussortiert wird. Genügend grosse und auch genügend scharfkantige Schottersteine werden nach hinten verfrachtet und gleich wieder – jetzt vermischt mit rund einem Drittel Neuschotter – auf die Geleise geschüttet und dort grob verteilt.

Grampen und verschweissen
Schon bis hierhin waren die Arbeiten laut und in der stillen Nacht weitherum hörbar. Erst recht laut wird es jetzt aber mit dem dritten und vorletzten Arbeitsschritt, dem Stopfen oder auch Grampen, welches früher noch in mühsamer Handarbeit, heute aber periodisch, etwa alle sechs Jahre übers ganze Schienennetz gesehen, maschinell ausgeführt wird. Die Gleisstopfmaschine vibriert mit ihren Auslegern den Schotter tief unter die Schwellen und verhilft dem Gleisoberbau damit zur nötigen Stabilität. Schliesslich wird das Geleise mit dem restlichen Schotter aufgefüllt inklusive der typisch schweizerischen Schotterkrone links und rechts. Ebenfalls empfindlich laut sind die abschliessenden Schweissarbeiten. Diese erfolgen jeweils am Ende der Woche. Dabei werden die Schienen auf 25 Grad aufgeheizt und neutralisiert, um dann bis zur nächsten Weiche, teils über Kilometer, lückenlos miteinander verschweisst zu werden. Dieses System erlaubt unter anderem höhere Geschwindigkeiten der Züge.
Läuft, so wie heute, alles nach Plan, so kehrt gegen fünf Uhr in der Früh langsam wieder Ruhe ein und bald schon verkehren die Züge der RhB wieder wie gewohnt. Einzig die beidseits des Bahntrasses liegenden Schienenstränge lassen erahnen, dass auch die nächste Nacht hier wieder zum Tag wird.

Infos zum Beruf des Gleisbauers und zur dreijährigen Berufsausbildung unter: www.gleisbauer.ch

Autor und Foto: Jon Duschletta (mehr Bilder gibt es mit der «EngadinOnline»-App direkt aus der Printausgabe sowie ein Video über die Nachtarbeiten auf: www.engadinerpost.ch zu sehen)