Wie sehr sich die Kunst heute mit dem Ort auseinandersetzt und Bezug nimmt auf lokale Gegebenheiten kultureller und gesellschaftlicher Art, zeigen sogenannte Kulturinitiativen.
Begonnen haben solche Anfang der 1980er-Jahre mit der «Mutter aller Kunstinitiativen im Alpenraum», der «Furk’art» auf dem Furkapass, gefolgt von regionalen Geschichten wie den «Progetti d’arte in Val Bregaglia», den «Engadin Talks» in Zuoz, der Art Safiental oder den «Kunstwegen Pontresina» bis hin zu neueren Anlässen wie «Shifting» in Ardez (Ausgabe vom Dienstag, 11. August) oder dem St. Moritz Neuanlass «Window of the World» (Donnerstagsausgabe, 13. August).
Johannes M. Hedinger ist Autor, Künstler, Kunstwissenschafter und Kurator und selber fest in derartigen Kunstinitiativen verankert. Er leitet die von ihm gegründete Alp Art Academy und seit letztem Jahr auch das Institute for Land and Environmental Art. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste und ist seit zehn Jahren auch Lehrbeauftragter am Institut für Kunst und Kunsttheorie an der Universität zu Köln. Er weiss also, wovon er spricht, wenn er, wie kürzlich während seines Referats in einem lauschigen Garten in Pontresina und für einmal gänzlich ohne elektronische Visualisierungsmittel auskommen zu müssen, über die Entwicklung der Kunst in den Bündner und Schweizer Alpen der letzten 30 Jahre referierte.

Objekt, Markenträger, Schutzort
Um über zeitgenössische, ortspezifische Kunstinszenierungen sprechen zu können, sollte man den geschichtlichen Wandel der Alpen verstehen, so Hedinger: «Der Alpenraum hat sich vom beliebten Objekt der Landschaftsmalerei mit dem Aufkommen des Tourismus zum Markenträger gewandelt und später, nach dem Ende des Kalten Krieges, zum Synonym für Schutz und Sicherheit entwickelt.»
Auf Kunst bezogen heisst dies, dass «die bildende Kunst bereits im 19. Jahrhundert die Kraft der Alpen als ikonenbildendes Element der Landschaftsmalerei entdeckt und genutzt hat», so Hedinger. Einen Wandel, von der oftmals glorifizierenden Darstellung des Alpenraums hin zu der in den späten 1960er-Jahren aus den Staaten herüberschwappende Bewegung der sogenannten Earth und Land Art, in der sich Kunstschaffende mehr und mehr von den traditionellen Kunstformen wie Malerei und Bildhauerei abwandten und stattdessen den natürlichen Raum zu ihrem neuen Experimentier- und Arbeitsfeld machten.
Einer der ersten Schweizer Künstler, welche sich in dieser neuen räumlichen Freiheit auszutoben begannen, war der St. Galler Bildhauer, Aktions- und Konzeptkünstler Roman Signer. Viele Weitere folgten seinem Mut zur Neuinterpretation des Alpenraums als schier grenzenlosem Spielfeld künstlerischer Kreativität. Hedinger ging in seinem Referat auf die eingangs erwähnten Kunstinitiativen ein und streifte kurz verschiedene, in den Alpen angesiedelte und den Alpenraum thematisierende Kulturinstitutionen wie das Alpine Museum in Bern, die Fundaziun Nairs in Scuol, Not Vital und seine diversen Kulturstützpunkte, das kunstaffine Hotel Castell in Zuoz, das neue Muzeum Susch oder die Kulturinitiative «Somalgors74» des Tschliner Künstlers Curdin Tones, um nur einige zu nennen.

Künstlergespräch im Privatgarten
So habe sich über die Jahre und Jahrzehnte auch das allgemeine Kunst- und Werkverständnis gewandelt: «Von meist singulären, objekthaften Erscheinungen hin zu einem prozess-, handlungs-, erlebnis- und publikumsorientierten Ansatz», so Hedinger.
Im zweiten Teil des von der Kulturkommission Pontresina Cultura organisierten Anlasses sprach Hedinger mit fünf der insgesamt 14 Künstlerinnen und Künstlern der diesjährigen «Kunstwege Pontresina». Lukas Bardill, Gabriela Gerber, Gian Häne, Jérémie Sarbach und die Unterengadinerin Flurina Badel stellten sich dem Künstlertalk und nutzten die Gelegenheit, vertieft auf ihre jeweiligen Werke einzugehen.
Dieses Gespräch hat die vorgängigen Aussagen Hedingers insofern bestätigt, als dass sich alle einig waren, dass solche im Ort und an ungewöhnlichen Standorten gezeigte Kunst dazu führt, dass sich sowohl Künstlerinnen und Künstler als auch das kunstinteressierte Publikum bewusster und intensiver mit dem Ort selbst beschäftigen. «Entsprechend verändert sich so auch die Wahrnehmung der Kunst im Alpenraum», schloss Johannes M. Hedinger.

Die Ausstellung «Kunstwege Pontresina» zum Thema «Publikationen zur Schönheit» mit 25 Stationen entlang der Via Maistra dauert noch bis Mitte Oktober. Mehr Infos und einen virtuellen Rundgang gibts unter: www.kunstwege-pontresina.ch.

Autor und Foto: Jon Duschletta