Kürzlich bin ich frühmorgens erwacht. Was für ein Höllenlärm vor meinem Fenster. Kein Flugzeug im Landeanflug, kein aufgetuntes Auto im Beschleunigungsmodus, keine Nachtschwärmer im Vollsuff. Nein: Vögel überall. Und hyperaktiv. Sie zwitschern, trällern und pfeifen als gäbe es kein Morgen mehr. Aber es gibt ein Morgen. Und ich muss aufstehen. Wie jeden Tag meinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt dieses Landes leisten. Darum habe ich um diese Zeit absolut kein Musikgehör für die offenbar bestens gelaunte Vogelschar.

Was diese freilich nicht kümmert und mich zunehmend in Rage versetzt. Haben diese Piepmätze eigentlich keine anderen Hobbys, als rechtschaffene Bürger von ihrem wohlverdienten Schlaf abzuhalten? Ich weiss. Kleine Welt, kleine Sorgen. Andere wohnen an der Autobahn, unter der Anflugschneise oder noch schlimmer: unter der Brücke ohne Bett. Aber ich bin nicht Tim Benzko und kann noch kurz die Welt retten. Schon gar nicht morgens um 4.30 Uhr. Nein, ich will einfach meine Ruhe. Ist das zu viel verlangt?

Offenbar schon. Denn wie ich später lese, ist das Singen für die Vögel ein Knochenjob. Und sie machen das nur, wenn es sich tatsächlich lohnt. Oder reden wir nicht um den heissen Brei: Es geht einzig und alleine um Sex. Wer von den Vogelmännchen lauter und variationsreicher singt, hat mehr Erfolg bei den Weibchen und bekommt mehr Nachwuchs. Bis zu 90 Dezibel laut kann ein Zwitschern sein. Das entspricht dem Lärm eines Presslufthammers. Was würden Sie machen, wenn morgens um 4.30 Uhr die Baufirma vor ihrem Fenster die Strasse aufreisst? Sicher nicht weiterschlafen. Die Polizei wäre rasch zur Stelle.

Aber ich kann ja nicht wegen ein paar Spatzen, Amseln oder Finken die Gesetzeshüter alarmieren. Darum mache ich das, was ich in solchen Situationen immer tue: Wachskugeln in die Ohren und weiterschlafen.

Übrigens: Gestern bin ich wieder erwacht, etwas später allerdings. Es war schon deutlich ruhiger. Mein Schluss: Die können es zwar laut, aber nicht besonders lange. Und: Ende Mai, wenn sich der Testosteronspiegel der gefiederten Rabauken wieder gesenkt hat, soll es sich sowieso ausgezwitschert haben – zumindest mit den ganz lauten Tönen. Das stimmt dann auch mich wieder froh. Wie heisst es doch so schön in der dritten Strophe des Kinderliedes «Alle Vögel sind schon da»: Was sie uns verkünden nun, nehmen wir zu Herzen: Wir auch wollen lustig sein, lustig wie die Vögelein, hier und dort, feldaus, feldein, singen, springen, scherzen.

P.S. Habe ich mich jetzt gerade der Urheberrechtsverletzung schuldig gemacht, weil ich die Strophen eins und zwei weggelassen habe? Das aber ist eine andere Geschichte. Lesen Sie bittte auf Seite 5

reto.stifel@engadinerpost.ch