«Wenn das das Demokratieverständnis unserer Gemeinde ist, dann verstehe ich die Welt nicht mehr.» Der St. Moritzer Architekt Roberto Trivella ärgert sich gewaltig über eine sogenannte Duldungsverfügung, welche die Gemeinde mit der Hotel San Gian AG Anfang Mai des letzten Jahres abgeschlossen hat. In dieser verzichtet die Gemeinde auf die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes des Hotels San Gian. Im Gegenzug verpflichtete sich die Boka SA, welche derselben Eigentümerin gehört, zu verschiedenen Massnahmen: Sie zog unter anderem eine Planungsbeschwerde gegen die Teilrevision der Ortsplanung Areal Du Lac zurück, ebenso Baueinsprachen gegen das geplante Alterszentrum.
Für Roberto Trivella ist das eine unrechtmässige Vermischung von zwei Geschäften, welche nichts miteinander zu tun haben. «Aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen klaren Ermessensmissbrauch, welcher nicht mit unserem demokratischen Rechtsverständnis vereinbart werden kann.» Im September des vergangenen Jahres reichte er darum Beschwerde beim Verwaltungsgericht mit dem Hauptbegehren ein, die Duldungsverfügung für nichtig zu erklären.

GPK befürchtet Präjudiz
Support erhält Trivella von der Geschäftsprüfungskommission der Gemeinde St. Moritz. Die GPK verurteilt das Vorgehen der Gemeinde in ihrem Tätigkeitsbericht in ungewohnt scharfem Ton. «Auch wenn der Neubau des Alterszentrums ein vom Stimmbürger unterstütztes Projekt ist, ist es nicht korrekt, sich den beschleunigten Baubeginn durch die Duldung einer Gesetzeswidrigkeit zu erkaufen», heisst es im Bericht. Mit der Duldungsverfügung würden unterschiedliche Probleme schnell und einfach gelöst und das gesetzeswidrige Verhalten der Hotel San Gian AG straffrei geduldet. Weiter stellt sich die GPK auf den Standpunkt, dass dieses Vorgehen in Zukunft als Präjudiz angewendet werden kann, was die Gemeinde in unangenehme Situationen bringen könnte.
Ganz anders sieht das die Gemeinde St. Moritz. Gemäss Gemeindevorstand Regula Degiacomi hat die Exekutive im Rahmen ihrer Kompetenzen und im öffentlichen Interesse gehandelt. «Langwierige und kostspielige Rechtsverfahren mit ungewissem Ausgang konnten dank einer einvernehmlichen Lösung vermieden werden», sagt sie. Degiacomi spricht damit eine Ende April unterzeichnete Vereinbarung mit Hans Jürg Buff an, mit welcher verschiedene Streitigkeiten beigelegt werden konnten. Buff war bereit, zum einen die Beschwerde gegen die Teilrevision der Ortsplanung Du Lac sowie die Einsprachen gegen das Alterszentrum und zum andern auch die Einsprache gegen die Einleitung einer Teilrevision des Quartierplans Bäderzentrum zurückzunehmen und damit einer Alternativlösung für die Klinik Gut an diesem Standort zuzustimmen. Im Gegenzug versprach der Gemeindevorstand, die von der GPK erwähnte Wiederherstellungsverfügung vom 13. Mai 2019 wieder erwägungsweise zurückzunehmen sowie im Rahmen der anstehenden Ortsplanungsrevision Entwicklungsmöglichkeiten für das Hotel San Gian erneut zu prüfen. «Dies selbstverständlich unter Beachtung der entsprechenden Zuständigkeiten der verschiedenen Gemeindeorgane», sagt Degiacomi.
Ob mit dieser Einigung ein rascherer Baubeginn des Alterszentrums ermöglicht worden ist, sei ungewiss. «Ganz sicher läge aber auch das im öffentlichen Interesse. Eine Verzögerung des Baubeginns wäre jedenfalls mit zusätzlichen Kosten verbunden», gibt Regula Degiacomi zu bedenken.

«Schulbeispielhaftes Verhalten»
Für Rechtsanwalt Stefan Metzger, welcher die Hotel San Gian AG und die Boka SA vertritt, ist das Vorgehen des Gemeindevorstandes «schulbeispiel-haft». Dieser habe äusserst sorgfältig unter Beizug von Rechtsanwälten und nach Konsultation der herrschenden Lehre und Rechtsprechung gehandelt; zum Wohle privater und – vor allem – vielfältiger verschiedenster öffentlicher Interessen. Kein Verständnis hat Metzger für den GPK-Bericht. «Dieser kommt, soweit er sich auf rechtliche Begründungen abzustellen versucht, zu rechtlich nicht haltbaren Schlüssen», schreibt er. Der Bericht komme als politisch gefärbte Beeinflussung daher und nicht als rechtlich fundierte Geschäftsprüfung. Den von einer Einzelperson ohne jegliche Betroffenheit angefachten Streit, in den sich die GPK der Gemeinde habe mit hineinziehen lassen, bezeichnet Metzger «als unnötig, existenzbedrohend und befremdlich, möglicherweise politisch motiviert».
Die von Metzger vertretene Hotel San Gian AG geht davon aus, dass das Verwaltungsgericht auf die derzeit hängige Beschwerde auf Feststellung der Nichtigkeit der Duldungsverfügung gar nicht erst eintreten wird und wenn doch, es diese abweisen wird. Naturgemäss 180 Grad anders sieht das der Rechtsanwalt von Roberto Trivella, Raffaele De Vecchi. «Indem die Gemeinde St. Moritz die Duldungsverfügung erlassen hat, hat sie eindeutig und in gröbster Weise Recht verletzt», sagt er.

Die lange Geschichte des Hotels San Gian und die kürzere des Alterszentrums Du Lac
Um die Geschichte um die Duldungsverfügung und den pendenten Rechtsstreit zu verstehen, muss man zurückblenden. Im Juni 2011 hat der Gemeindevorstand der Hotel San Gian AG die Baubewilligung für eine energetische Sanierung des Hotels erteilt. Im gleichen Jahr wurde diese durchgeführt. Dabei wurden die offenen Balkone in die Hotelzimmer integriert, was zu einer Überschreitung der Ausnützungsziffer führte. Das Bauamt der Gemeinde stellte diesen widerrechtlichen Zustand bei der Bauabnahme fest. Eine dagegen ausgesprochene Busse der Gemeinde konnte die Gemeinde infolge Verjährung nicht mehr aussprechen, und verschiedene Versuche von Hotelbesitzer Hans Jürg Buff, sich die fehlende Bruttogeschossfläche von benachbarten Parzellen zu beschaffen, scheiterten. In der Folge versuchte die Hotel San Gian AG, den rechtswidrigen Zustand durch eine entsprechende Anpassung der Nutzungsordnung zu beseitigen. Im Dezember 2016 stand der Planungsentwurf, welcher im Wesentlichen die Umzonung in eine Hotelzone, eine Aufstockung um drei Stockwerke und einen Restaurantanbau im Erdgeschoss vorsah. Im April 2017 kam zudem ein Planungsvertrag zustande, in welchem Buff unter anderem verpflichtet wurde, für die unrechtmässige Übernutzung rückwirkend jährlich 3250 Franken zu bezahlen. Während der Gemeinderat Ende August 2017 die Revision der Ortplanungsvorlage San Gian guthiess, wurde diese vom Souverän anlässlich der Urnenabstim-mung vom 26. November 2017 abgelehnt. Am 13. Mai 2019 erliess der Gemeindevorstand eine Wiederherstellungsverfügung, die den Hotelier verpflichtet hätte, die widerrechtlich integrierten Balkone zurückzubauen. Gegen diesen Entscheid erhob die Hotel San Gian AG beim Verwaltungsgericht am 17. Juni 2019 Beschwerde. Nach Verhandlungen zwischen den Parteien nahm die Gemeinde am 4. Mai 2020 die Wiederherstellungsverfügung zurück und akzeptierte mit einer sogenannten Duldungsverfügung den widerrechtlichen Zustand. Und zwar für so lange, wie das Hotel San Gian als solches betrieben wird. (rs)

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg