«Die 8. La Diagonela – der perfekte Start in die Langlaufsaison der Langstrecken-Spezialisten»: Dies der Titel der Medienmitteilung, die von den Organisatoren im Nachgang verschickt worden ist. Was aus organisatorischer Sicht und in Bezug auf die Fernsehbilder – das Engadin präsentierte sich bei Bilderbuchwetter tiefverschneit – zutreffen dürfte, liest sich für verschiedene Athleten wie ein sehr schlechter Witz. Aufgrund der tiefen Temperaturen haben sie teils schwere Erfrierungen davongetragen.

Bilder gehen nicht aus dem Kopf

Nico Walther aus Plaun da Lej hat das Rennen als Mitglied des Teams BSV IBEX bestritten. «Mir ist klar, dass Profisportler hart im Nehmen sein müssen», sagt der 23-Jährige. Aber das von den Athleten derart viel verlangt werde, habe ihn befremdet. «Ich bin mit viel Glück davon gekommen», sagt er mit Verweis auf andere Athleten. Auch Nico Walther hat Erfrierungen erlitten. Er hat kein Gespür mehr in den Knien, und ausserdem eine kleine Blase im Gesicht. Zum Arzt gegangen ist er deswegen aber nicht. Langsam gehe es ihm wieder besser, doch das Erlebte gehe ihm nicht aus dem Kopf: Die Bilder eines Athleten, der während des Laufs neben ihm zusammengebrochen ist, der vergebliche Versuch, etwas Flüssigkeit aus seinem Trinkgurt zu sich zu nehmen – das Getränk war kurz nach dem Start eingefroren und durch die Saugversuche am Schlauch froren bald auch seine Lippen ein. «Ohne entsprechende Vorbereitung hätte ich das Rennen niemals durchstehen können», sagt er. Mit Vorbereitung meint er die langen Unterhosen, die er untergezogen hatte, die Wärmesocken, dank denen er einigermassen warme Füsse hatte sowie die Tapes, die er sich zum Schutz vor der Kälte aufs Gesicht geklebt hatte. Beklagen will er sich persönlich nicht. «Aber ich frage mich schon, weshalb so viel Aufwand betrieben worden ist zum Schutz vor Corona, aber offenbar weit weniger zum Schutz der Athleten vor der Kälte.»

Alle haben Situation unterschätzt

Markus Walser aus Davos ist Betreuer und Trainer des Teams BSV IBEX. Auf die Frage, ob man den Organisatoren einen Vorwurf machen könne, sagt er: «Wir alle haben die Situation unterschätzt, Athleten, Trainer, das OK.» Man könne nicht einfach nur die Organisatoren in die Pflicht nehmen. Diese hätten am Vorabend des Rennens betont, dass sich die Athleten auf besonders tiefe Temperaturen einstellen müssten. Diejenigen, welche diese Empfehlungen befolgt hätten, hätten zwar auch mit den extremen Bedingungen zu kämpfen gehabt, seien aber ohne Verletzungen ins Ziel gekommen. «Ich kann den Verantwortlichen keinen Vorwurf machen. Aber aus heutiger Sicht und mit Blick auf den Verlauf und die negativen Folgen dieses Rennens muss ich sagen, es wäre besser zu einem Startverbot gekommen.» Peter Soleng Skinstad startete für ein norwegisches Team. Er hat Erfrierungen am Ohr erlitten. Keine gravierende Verletzung, aber er musste medizinisch behandelt werden. Er sieht das OK in der Verantwortung. «Man hätte das Rennen um ein paar Stunden verschieben sollen.» Das OK habe von Temperaturen von -15 Grad gesprochen, effektiv seien es durchgehend –25 Grad gewesen. «Das Atmen bereitete Schmerzen. Die Gesundheit und Sicherheit der Athleten wurde leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, die Erfrierungen sind Beweis genug. Ich hoffe, das OK lernt aus diesen Fehlern.» 

Rollen müssen bekannt sein

Seitens des lokalen Organisationskomitees nimmt Präsident Ramun Ratti Stellung. Dass es teilweise zu starken Erfrierungen gekommen sei, bedaure man sehr. Den Vorwurf, man habe die Gesundheit und Sicherheit der Athleten auf Spiel gesetzt, weist er entschieden zurück. «Langdistanzrennen sind eine Outdoor-Wintersport-Veranstal-tung. Um die Sicherheit und Gesundheit der Athleten zu gewährleisten, müssen alle Beteiligten ihre Rolle kennen.» Er spricht damit zum einen die Organisatoren und Offiziellen an, die verpflichtet seien, solche Rennen im Rahmen der dafür festgelegten Rahmenbedingungen und Regeln zu organisieren. Aber auch die Teams und die Athleten, die Hinweise zum Schutz ihrer Gesundheit antizipieren müssten. 

Jury hat Ausnahmen erlaubt

Gemäss Ratti liegt der Entscheid für die Durchführung in der Kompetenz der Jury, welche aus einem TD der FIS, dem Visma-Ski-Classic-Race-Direktor, dem nationalen TD und dem Rennleiter des lokalen OK, in diesem Fall Adriano Iseppi bestehe. «Die Jury hat nach dem Rennen bestätigt, dass dieses gemäss den Vorschriften des offiziellen Reglements der Visma Ski Classic regulär war», sagt er. Und er betont, dass die Jury über die Team-Verantwortlichen dazu aufgerufen habe, sich angesichts der prognostizierten Temperaturen vorzu-bereiten. Noch am Morgen vor dem Rennen habe die Jury eine weitere Ausnahme zum Reglement erlaubt und kommuniziert, dass warme Überziehkleidung angezogen werden kann, selbst wenn dadurch die Startnummer verdeckt werde. «Ein grosser Teil der Teams hat umgehend reagiert und die Ausrüstung angepasst», sagt Ratti. Auch beim Norweger Andreas Nygaard sind die Hände erfroren. Seit dem Wochenende befindet er sich in einem Spital in Sondrio in medizinischer Behandlung und musste sich dort einer Operation unterziehen. Voraussichtlich wird er heute Donnerstag entlassen. Nygaard sieht sich in der Verantwortung. «Ich habe mich nicht warm genug angezogen und habe die Temperaturen schlicht unterschätzt. Das OK möchte ich nicht verantwortlich machen, soweit ich es beurteilen kann, hat es sich an die Regeln und Vorgaben gehalten.»

Körperliche und mentale Belastung

Etwas anders sieht das der deutsche Langlauf-Profi Patrick Ottilinger. Er hat Erfrierungen dritten Grades an der rechten Hand erlitten. In den nächsten zwei Wochen werde sich entscheiden, ob bleibende Schäden die Folge sind und betroffene Gliedmassen amputiert werden müssen. Wenn, droht ihm das Karriereende. «Ich bin im Moment am Kämpfen. Neben den körperlichen Beeinträchtigungen ist die ganze Situation auch eine mentale Belastung», sagt er. Klar stehe es in der Selbstverantwortung eines jeden Athleten, das Rennen abzubrechen oder gar nicht erst zu starten. Ottilinger ist überzeugt, dass es besser gewesen wäre, den Start um zwei oder drei Stunden nach hinten zu verschieben. «Da wäre die Chance gross gewesen, dass die Temperaturen auf über –20 Grad steigen. Ich denke, das wäre bei 150 Läufern aus organisatorischer Sicht kein Problem gewesen.» 

Keine Aufwärmmöglichkeiten 

Daten von Meteo Schweiz zeigen, dass die Temperaturen in Zuoz bis 11.00 Uhr zwischen -24,3 und 20,2 Grad lagen, in Samedan zwischen -24,6 und 20,7. Erst ab 11.00 Uhr ist es wärmer geworden mit -17 respektive -18,5 Grad. Für Ratti gibt es drei Punkte, die gegen eine Verschiebung des Rennen hin zum Mittag gesprochen hatten. Zum einen waren es die fehlenden Aufwärmmöglichkeiten im Bereich des Start- und Zielgeländes in Zuoz. Aufgrund der Covid-19-Schutzmassnahmen gab es keine Möglichkeit, sich in einen geheizten Innenbereich zu geben, die Athleten wären noch viel länger der Kälte ausgesetzt gewesen. Zum anderen hätte eine Verschiebung des Rennens dazu führen können, dass es mehr Kontakte mit Hobbyläufern auf der Loipe gegeben hätte. Und schliesslich verweist Ratti auf ein lokales Phänomen. Der Schattenwurf respektive die Sonneneinstrahlung führe in dieser Jahreszeit dazu, dass die Temperaturen beispielsweise im Bereich Resgia Zuoz über längere Zeit konstant blieben, kurz bevor die Sonne aufgehe, aber noch einmal markant fallen könnten. «Das war bei der Festlegung der Startzeit ein entscheidender Faktor. Wir wollten verhindern, dass die Zielankunft um ca. 11.25 Uhr genau in dieses kritische Zeitfenster fällt, was mit der effektiven Ankunftszeit um 11.25 Uhr auch gelang.»

Autoren: Marie Claire Jur, Reto Stifel, Denise Kley

Foto: z. Vfg.