«Mehr als ein Flirt zwischen den drei Seengemeinden?», hat sich diese Zeitung in einem Artikel vor rund einem Monat gefragt. Der Hintergrund: Sils, Silvaplana und  St. Moritz haben sich seit Januar 2020 mit Begleitung durch die Fachhochschule Graubünden (FHGR) intensiv darüber ausgetauscht, wie sie stärker zusammenarbeiten könnten. Sollen bereits bestehende Kooperationen ausgebaut und neue eingegangen werden? Oder wäre gar eine Fusion denkbar? Die Silser Gemeindepräsidentin Barbara Aeschbacher brachte die Resultate anlässlich eines öffentlichen Informationsabends am Mittwoch wie folgt auf den Punkt: «Es muss etwas passieren. Beides ist eine Verbesserung zum Status quo.»

 

«Keine Fusionsveranstaltung»

Gleich zu Beginn der Veranstaltung sagte der St. Moritzer Gemeindepräsident Christian Jott Jenny, dass es darum gehe, eine Auslegeordnung zu machen. «Das ist keine Fusionsveranstaltung, uns interessiert vor allem ihre Meinung.» Diese Meinungen scheinen noch sehr geteilt zu sein. Zumindest liessen sich nach der von rund 150 Personen sehr gut besuchten Veranstaltung weder glühende Fusionsbefürworter noch klare Gegner finden. Nicht wenige scheinen den Weg über eine verstärkte interkommunale Zusammenarbeit (IKZ) zu favorisieren. Ein Weg, der allenfalls später in eine Teil- oder sogar eine Talfusion münden könnte. Apropos Talfusion: Auf Initiative von Christian Jott Jenny und dem Silvaplaner Gemeindepräsidenten Daniel Bosshard soll das Thema im Januar anlässlich einer Präsidentenkonferenz diskutiert werden. Die beiden sind der Meinung, dass eine Talfusion auch die Mehrheitsmeinung der Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten abbilde. Dem widerspricht Barbara Aeschbacher. Ihrer Auffassung nach brauche es dazu zuerst eine Diskussion. Es gebe zurzeit noch keine konsolidierte Meinung zu diesem Thema. Während Aeschbacher einer solchen Fusion kritisch gegenübersteht, gelten Jenny und Bosshard in der Region als Fusions-Turbos.

 

Komplexe Strukturen

Die Projektgruppe, bestehend aus den zwei Präsidenten, der Präsidentin und ihren Stellvertretern, hat während der Arbeit festgestellt, dass die Strukturen im Oberengadin über die letzten Jahrzehnte gewachsen und sehr komplex geworden sind. In den elf Gemeinden gibt es 68 Exekutivmitglieder, 78 Gemeindekommissionen und 75 Beteiligungen an verschiedensten Institutionen. Innerhalb eines Jahres steht eine Unzahl an Sitzungen an. In Silvaplana beispielsweise sind es zwischen 25 und 30 Vorstandssitzungen und rund 200 weitere Sitzungen im Rahmen der IKZ. In einer Umfrage kommen die Mitglieder der Gemeinde-Exekutiven zu dem Schluss, dass die Leistungsgrenzen vor allem im Bereich der Infrastruktur aber auch beim Gemeindevorstand und der Verwaltung erreicht sind. Für Claudio Dietrich, Gemeindevizepräsident von Sils, ist darum klar: «Wenn wir eine noch stärkere IKZ anstreben, dann mit dem Ziel, dass wir effizienter sind, als wenn jede Gemeinde diese Aufgabe alleine lösen müsste.»

 

Steuer- und Bauamt, Schule

Angeschaut wurden im Rahmen der IKZ verschiedene Bereiche. Beispielsweise eine Steuerallianz, welche gemäss Dietrich durchaus Sinn machen könnte, da heute vom Kanton vorgeschrieben sei, dass mit einer 100-Prozent-Stelle rund 1000 Steuererklärungen pro Jahr bearbeitet werden müssen. Eine Zahl, die weder Sils noch Silvaplana erreichten. Schon schwieriger dürfte es bei einer Zusammenlegung der Bauämter werden, dies aufgrund der unterschiedlichen Baugesetzgebungen. 

Emotional werden dürfte es beim Thema Schule. Geprüft werden könnte ein gemeinsamer Schulverband mit einer Schulleitung. Für Bosshard wäre ein gemeinsamer Schulcampus in St. Moritz persönlich die beste Lösung. Betont wurde, dass eine zweisprachige Schule angestrebt wird und dass eine Zusammenlegung nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der Schule im Dorf ist. 

 

Fusion ist kein Kostenprojekt

Beim Thema Fusion wurden auch die Identität und die Kosten näher angeschaut. Gemäss dem Silvaplaner Gemeindevorstand Marco Kleger wäre eine Fusion aber kein Kostenprojekt. Errechnete Einsparungen von 600 000 Franken seien unbedeutend im Vergleich zu den Millionen-Budgets der Gemeinden. Angestrebt würde bei einer Fusion ein Steuerfuss von 60 Prozent. 

In einem Fazit kommt die Arbeitsgruppe auch zum Schluss, dass bei einer IKZ die Umsetzungswahrscheinlichkeit realistisch, bei einer Fusion aber eher unwahrscheinlich ist. Wie geht es weiter? Die Bevölkerung soll bis 20. Dezember einen Fragebogen ausfüllen, welcher anschliessend von der FHGR ausgewertet wird. Basierend auf dieser Umfrage wird dann das weitere Vorgehen festgelegt. «Wichtig ist, dass möglichst viele Personen mitmachen, um ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten», motivierte Aeschbacher alle, an der Umfrage teilzunehmen. 

Weitere Infos zum Projekt auf www.dialog-seengemeinden.ch

Nachgefragt:

«Politischer Wille noch recht klein»

Engadiner Post: Ursin Fetz, Sie haben die drei Seengemeinden in Ihrer Arbeit zwei Jahre begleitet. Ihr Eindruck?

Ursin Fetz: Nach Auffassung der Arbeitsgruppe ist eine Fusion zum jetzigen Zeitpunkt eher unrealistisch. Dafür würde es noch viel Überzeugungsarbeit benötigen. Darum ist wohl der realistischere Weg der einer verstärkten Zusammenarbeit. Ein Weg, den schon etliche andere Gemeinden gegangen sind. Zuerst musste die Zusammenarbeit ausgereizt werden, um dann bereit für den nächsten Schritt zu sein. Die Arbeitsgruppe ist zum Schluss gekommen, dass eine Fusion im Moment wenig Chancen hätte, umgesetzt zu werden.

Braucht es nicht einfach mehr Überzeugungsarbeit seitens der Politik?

Vermutlich schon. Häufig habe ich in den Diskussionen gehört «Wenn schon Fusionieren, dann gleich unter allen Gemeinden.» Vielleicht würde eine grosse Fusion gelingen. Die Erfahrung aber zeigt, dass es häufig zuerst kleinere Schritte braucht. Im Schams beispielsweise haben erst Kleinfusionen stattgefunden, obwohl dort ursprünglich eine grössere Fusion angedacht war.

Würden Sie persönlich den Seengemeinden oder dem Oberengadin raten, den Weg der Fusion weiterzuverfolgen?

Häufig ist der Fusionstreiber eine Notlage, sei es wegen angespannter Finanzen oder dem Problem, genügend Leute für die vielen Ämter zu finden. Beides trifft auf das Oberengadin nicht zu. In meiner Aussenwahrnehmung ist mir in diesem Projekt aber aufgefallen, wie stark die Verzahnung unter den einzelnen Gemeinden heute schon ist. Das führt zu vielen Sitzungen, in denen sich meistens die gleichen Leute wiedertreffen, um über ähnliche Themen zu diskutieren. Dieses Problem würde durch eine Fusion entschärft. Mit einer Fusion ist oft die Hoffnung verbunden, dass Geld gespart werden kann.

Zu Recht?

In einer wissenschaftlichen Auswertung unseres Projektes «Fusions-Check» haben wir gesehen, dass im Bereich Finanzen nur wenig Potenzial besteht. Persönlich bin ich aber der Meinung, dass, wenn der politische Wille vorhanden wäre, finanzielle Synergien besser zu nutzen, ein erhebliches Sparpotenzial vorhanden wäre. Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass bei einer Fusion die Identität zum eigenen Dorf verloren gehen könnte.

Was sagt Ihre Erfahrung?

Die erstaunlichste Erkenntnis aus dem «Fusions-Check» ist die, dass die Identifikation zur fusionierten Gemeinde sogar zunimmt, ohne diese zur alten Gemeinde zu verlieren. Man identifiziert sich beispielsweise über die überkommunalen Vereine, die schon vor der Fusion mit der politischen Gemeinden zusammengearbeitet haben. Es gibt aber auch Ausnahmen. Dann beispielsweise, wenn das politische Tagesgeschäft in einer fusionierten Gemeinde nicht funktioniert. Dann kann Missstimmung entstehen, welche auf die Fusion zurückgeführt wird. Die Fachhochschule Graubünden hat parallel zum Projekt der Seengemeinden die Plaiv-Gemeinden in einer sehr ähnlichen Fragestellung begleitet.

Offenbar ist der Wille zur Zusammenarbeit doch nicht so gross?

Der Auftrag in der Plaiv ist ganz klar auf eine interkommunale Zusammenarbeit ausgelegt und nicht mit einer parallelen Abklärung für eine Fusion verknüpft. Die Projekte können somit nicht verglichen werden.

Ursin Fetz ist als Leiter des Zentrums für Verwaltungsmanagement verantwortlich für Weiterbildung, Beratung sowie Forschung mit öffentlichen Institutionen und Non-Profit-Organisationen an der Fachhochschule Graubünden.

Autor: Reto Stifel

Foto: z. Vfg