Wer derzeit im Waldhaus am See übernachtet, trifft auf den Zimmeretagen womöglich auf ungewöhnliche Nachbarn. Im vierten Stockwerk etwa, in Zimmer 401, residiert ein gewisser Alberto Ciaponi, seines Zeichens Kellner des hoteleigenen Restaurants. Dessen Augenmerk gilt jedoch weniger dem Bergpanorama, das sich da vor seinem Domizil erstreckt, als dem Wohlbefin­den seiner Gäste. Und doch logiert er für ein paar Wochen mitten unter ihnen, in einem hübschen Doppelzim­mer unter dem Dach. «Das ist nur vorübergehend», betont der 56-Jährige, «solange die zwölf Personalzimmer aufwendig umgebaut werden.»

Anfang November, eine Stippvisite im eigentlich 270 Franken teuren Ausweichquartier: Auf dem Schreibtisch steht Alberto Ciaponis geliebte Kaffeemaschine, Marke Giacca. «Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, trinke ich hier oben einen Espresso, das ist meine Routine», erzählt er. Dabei kommen Heimatgefühle auf, Alberto stammt aus Italien. Genauer gesagt aus Talamona, einem Alpin-Dorf in der nördlichen Provinz Sondrio, 85 Kilometer Pass-Strassen von St. Moritz entfernt. Er erklärt: «An regulären Arbeitstagen lohnt sich das weite Pendeln kaum.»

250 000 Touristen kommen jährlich nach St. Moritz, 140 000 im Sommer und 110 000 im Winter. Das sind besonders anspruchsvolle Zeiten für das Hotelpersonal. Alberto ist nur einer von rund 2500 vor Ort, schweizweit arbeiten rund 253 000 Menschen als ganzjährige oder saisonale Angestellte im Gastgewerbe. Seit sieben Jahren gehört er zur 35-köpfigen Waldhaus-Belegschaft.

Alberto schaut aus dem Fenster seines Zimmers. Die Abendsonne wirft ihre letzten Strahlen auf die gefrorenen Lärchennadeln. Im Gegensatz zu den Nachbarzimmern ist sein Bett nicht makellos gemacht, der Zimmerservice bleibt auch in Zeiten des Umbaus den Gästen vorbehalten. An der Wand hängt eine Uhr seines Lieblingsclubs Juventus Turin, Alberto hat es sich so häuslich wie möglich eingerichtet.

In einer Pause fährt Alberto mit dem Aufzug hinunter auf Ebene «–2». Neugierig schaut er sich schon mal in seinem zukünftigen Reich um. Noch wird gebohrt, geschleppt und gehämmert. Sein Zimmer wird eines von zwölf sein, rund 20 Quadratmeter gross, inklusive eigenem Bad und Seeblick. «Bisher haben wir uns Etagenbäder geteilt», sagt Alberto. Der Boden ist betoniert, nach einem gemütlichen Rückzugsort sieht es noch nicht aus. Sichtbar ist dennoch, dass viel Schweiss und Herzblut in das 1,5-Millionen-Projekt fliesst. Die Bauarbeiter sind fleissig bei der Sache, auch an Samstagen. Nur ab und zu stehen sie vor dem Hoteleingang und rauchen eine Zigarette.

 

Umdenken in der Hotellerie

Die Renovierung im Waldhaus am See ist ein Beispiel dafür, wie viel Mühe sich Hoteliers inzwischen geben, ihre Mitarbeitenden nicht nur durch Lohnerhöhungen zu halten. Denn während der Corona-Pandemie haben viele Fachkräfte die Branche verlassen, die Normalität ist längst nicht zurück. Steigende Lebenshaltungskosten verstär­ken diesen Effekt. Gemäss einer Konjunkturumfrage der ETH Zürich hatten im dritten Quartal rund 41 Prozent der Gastrobetriebe Schwierigkeiten, genügend Personal zu finden.

 

Tattoos, Campus ...

Mehr Lohn und bessere Unterkünfte scheinen derweil erst der Anfang einer Entwicklung zu sein: So bietet die Münchner Hotelkette Ruby poten­ziellen Mitarbeitern neben der Chance auf einen attraktiven Job ein Wunsch-Tattoo. Alternativ gibt es einen Zuschuss von bis zu 500 Euro für Piercings oder Frisuren. Das österreichische Naturhotel Forsthofgut in Leogang plant gar einen 1300 Quadratmeter grossen Mitarbeiter-Campus, um das eigene Wachstum und die Zufriedenheit der Angestellten zu fördern.

Im Waldhaus am See steht derweil das Abendessen an. Alberto Ciaponi fährt wieder hinauf auf Etage vier und holt eines seiner zehn weissen Hemden und eine Krawatte aus dem Holzschrank. Und voilà: Kurz darauf ist er im Speisesaal in seinem Element. Er kümmert sich freundlich und dezent um jeden Gast, wahrscheinlich auch um seine Zimmernachbarn. Zum Hauptgang gibt es Saltimbocca alla romana, Alberto empfiehlt dazu einen rubinroten Primitivo. Im Hintergrund leuchtet der St. Moritzersee im Mondlicht.

Gegenüber vom Speisesaal hat nach Stunden im Büro und auf der Baustelle Sandro Bernasconi an der Whiskybar Platz genommen und beobachtet von dort das Geschehen. Er hat das Waldhaus vor zwölf Jahren von seinem Vater übernommen und ist als Kind selbst in einem der heutigen Personalzimmer aufgewachsen. «Die Mitarbeitenden haben die Renovierung sehr gut aufgenommen», erzählt der 38-Jährige, «wir hoffen auch, dass die neuen Zimmer lange halten.»

 

... und Weltreisen

Inmitten des Renovierungstrubels plant der Hotelier bereits den nächsten Coup. In wenigen Tagen geht es nach Costa Rica – kostenlos für alle Mitarbeiter; insgesamt 26 Personen fliegen mit. Dort besitzt ein alter Schulfreund ein Hotel. Geplant ist ein Austausch: Im Oktober 2024 soll die Hotelmannschaft aus Costa Rica zum Gegenbesuch nach St. Moritz kommen.Gehaltserhöhungen, neue Wohnungen, Friseure, Kletterwände, Fernreisen – das klingt beinahe so, als müsste man doch noch einmal darüber nachdenken, in der Hotellerie anzuheuern. Gute Kellner werden überall gesucht – auch im Waldhaus am See.

Autor und Fotos: Carlos Contreras

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Journalisten-Ausbildungskurses «Reportagen» von Peter Linden in St. Moritz. Der Autor ist Volontär an der Axel Springer Akademie. Seine Stammredaktion ist die deutsche BILD.