War der verhängnisvolle Bergsturz vom 23. August 2017 mit acht toten Berggängerinnen und Berggängern vorhersehbar oder nicht? Um diese zentrale und weitere zusammenhängende Fragen geht es in dieser leidvollen Geschichte hauptsächlich. Von Beginn weg nahe dabei war Stefanie Hablützel, die langjährige SRF-Regional­journa­listin aus Chur, die heute als freie Investigativjournalistin tätig ist. Für den «Beobachter» hat sie regelmässig über den Fall Bondo geschrieben und sich dabei immer auch den verzweifelten Fragen der Hinterbliebenen nach dem Warum angenommen. 
So auch jetzt, wo Hablützel ein neues, erst kürzlich veröffentlichtes Gutachten als Basis für einen weiteren «Beobachter»-Artikel nimmt. Erstellt hat das 60-seitige, unabhängige Gutachten der Westschweizer Geologe Thierry Oppikofer für die Bündner Staatsanwaltschaft. Oppikofer untersuchte darin Fragen rund um die Geologie am Piz Cengalo und die Beurteilung der Gefahrenlage. Die Hinterbliebenen hatten das Gutachten gerichtlich erkämpft und dabei vom öffentlichen Druck profitiert, welcher durch die «Beobachter»-Artikel entstanden war. Auch die EP/PL hat verschiedentlich darüber berichtet, unter anderem schwerpunktmässig in der Ausgabe vom 23. August 2022, auch basierend auf den Recherchen Hablützels.

Wegsperrung war erforderlich
Diese zitiert den Geologen im neuesten, am Freitag im «Beobachter» veröffentlichten Artikel mit dem Titel «Warum beim Bergsturz von Bondo acht Menschen sterben mussten». Oppikofer schreibt von einem «inakzeptablen Risiko» und auch, dass sich der Bergsturz «durch zahlreiche Vorboten angekündigt» habe. Ergo hätten die Wanderwege in der Val Bondasca vorsorglich gesperrt werden müssen, was letztlich die Todesfälle vermieden hätte. 
 Stefanie Hablützel zufolge widerspricht das neue Gutachten der ursprünglichen Einschätzung der Bündner Staatsanwaltschaft. Diese hatte ihre Untersuchung auf einen Bericht des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) gestützt – Fachleute des AWN hatten der Gemeinde noch gut eine Woche vor dem Bergsturz geraten, die Val Bondasca offen zu lassen – und das Verfahren zwei Jahre nach dem Ereignis mit der Begründung eingestellt, der Bergsturz sei nicht vorhersehbar gewesen und Vorboten in Form von Felsstürzen hätten gefehlt. 
Heute, mehr als sechs Jahre nach dem Bergsturz, lässt Hablützel nochmals die Ereignisse Revue passieren, lässt Hinterbliebene zu Wort kommen und erinnert auch an die bereits 2021 publizierte Einschätzung des ETH-Geologen Florian Amann. Dieser forscht zum Piz Cengalo und rechnete bereits Anfang August 2017 mit einem baldigen Bergsturz. Seine damals gegenüber dem Kanton Graubünden und auch dem Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH geäusserten Befürchtungen, die letzten Messungen am Piz Cengalo seien alarmierend und es könne sich in den nächsten Tagen bis Wochen ein seismisch sichtbarer Bergsturz ereignen, blieben allerdings wirkungslos. 

Aufenthalt war lebensgefährlich
Trotz aller Warnungen blieben die Wanderwege in der Val Bondasca aber offen. Laut Hablützel sei das AWN überzeugt gewesen, dass sich ein grosser Bergsturz rechtzeitig und mit kurzfristig gehäuften und zunehmend grösseren Felsstürzen ankündigen würde. Das Risiko für Todesfälle liege «im tragbaren Rahmen», zitiert Hablützel aus einer E-Mail des Amtes an die Gemeinde.
Der Geologe Thierry Oppikofer kommt in seinem Gutachten in der Berechnung des Todesfallrisikos jetzt aber zu einem anderen Schluss: Die Schwelle zum «inakzeptablen Risiko» werde überschritten, sobald ein Bergsturz innert Monatsfrist drohe, schreibt er. Das bedeute, dass ein Aufenthalt in der Val Bondasca zu jener Zeit lebensgefährlich war, weshalb er, Oppikofer, damals nicht nur die Wanderwege hätte sperren, sondern auch ein Frühwarnsystem hätte installieren lassen.
Oppikofer hat für sein Gutachten auch die Beobachtungen des Hüttenwarts der Sciorahütte ausgewertet, welcher für den Kanton sogenannte Sturzprotokolle der «unruhigen» Nordwand des Piz Cengalo verfasste. Darauf abgestützt, geht der Geologe explizit nicht von einem «Bergsturz ohne Vorankün­digung durch kleinere Felsstürze» aus, und zwar weder für die Nordost- noch für die Nordwestflanke.
Stefanie Hablützel folgert aus dem Gutachten, dass nun erneut die Bündner Staatsanwaltschaft am Zuge sei und schreibt: «Sie muss entscheiden, ob sie Anklage wegen fahrlässiger Tötung erhebt – und damit den Fall nach mehr als sechs Jahren vor ein Gericht bringt.» Gegenüber der Staatsanwaltschaft hätten die beiden im Verfahren involvierten AWN-Fachleute in einer ersten Stellungnahme verlangt, dass Strafverfahren einzustellen. Und schliesslich zitiert Hablützel auch den Strafrechtsprofessor Felix Bommer, welcher das Gutachten Oppikofers als «sehr bedeutsam für das Strafverfahren» einschätzt. 
Autor und Foto: Jon Duschletta