Engadiner Post: Philipp Gurt, Ihre Kriminalromane spielen hauptsächlich in Ihrer Heimat Graubünden. Wenn man die Biographie Ihrer Kindheit liest, dann mag das auch etwas erstaunen. Wie gut sind Sie auf Ihre Heimat zu sprechen?
Philipp Gurt: Es ist genau umgekehrt. Wer meine Biographie kennt, weiss, weshalb dem so ist. Ich hatte ja keine Probleme mit der Landschaft, sondern mit den Institutionen. Chur, das Rheintal, ja der ganze Kanton Graubünden wurde für mich eine Art Familienersatz. Meine Heimat wurde dann so etwas wie meine Familie. Wenn man jahrelang weg ist von der Familie und niemanden hat, dann hat man wenigstens das, was man hat und die Natur ist ein treuer und ehrlicher Weggefährte. Ich bin ein Kind der Berge, der Natur. Darin habe ich meine Kraft und meine Ruhe gefunden, bis heute. 

Auch wenn Sie als Spezialist für Schauplätze andauernd an Ihren eigenen früheren Schauplätzen vorbeikommen?
Ja, und das ist auch gut so. Wie gesagt, die Natur hat mir immer Halt gegeben, so auch Graubünden. Deshalb kommen in meinen Büchern auch die Naturbeschreibungen so intensiv vor – und auch Graubünden. 

Wie gehen Sie damit um, dass man Sie immer zuerst auf Ihre Vergangenheit anspricht?
Dass tun vor allem die Medien ... (lacht).

... aber auch auf Ihrer eigenen Homepage und in praktisch jeder Buchrezension werden diese leidvollen Geschichten immer wieder aufgeführt.
Diese gehören zu mir. Wenn ich schreiben muss, wer ich bin, dann ist meine Kindheit aber nur ein Teil davon. Dass ich 1968 in eine Bergbauernfamilie hineingeboren wurde, dass ich als Fünfjähriger weg musste, das alles hat aber entscheidend dazu beigetragen, dass ich heute Schriftsteller bin. Die Vergangenheit eines jeden Menschen wird automatisch zur Biographie, so auch bei mir. 

«Eine halbe Million Menschen hat das ‹Schattenkind› gelesen»


Niedergeschrieben und verarbeitet haben Sie das im Bestseller «Schattenkind» aus dem Jahre 2017.
Ja, das Buch wurde bisher von einer halben Million Menschen gelesen, kaum jemand hat nicht davon gehört. Das ist nun mal so. Aber ich denke, dass ich mich längst schon über meine anderen Bücher emanzipiert habe. Man spricht viel mehr über die neuen Bücher als über «Schattenkind». Auch diese Bücher sind ganz oben in den Bestsellerlisten gelandet und sind lange dort geblieben, wochen-, ja monatelang. Beispielsweise «Mord im Bernina Express». Dieser Krimi wurde vor acht Monaten veröffentlicht und war bis vor zwei Wochen immer in den Bestsellerlisten vertreten. Das hat nicht einmal «Schattenkind» geschafft.

Dann erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie heute leben, was Sie tun?
Da hat sich nicht viel verändert. Ich bin weiterhin fest in Graubünden verankert, lebe in Chur und schreibe zu Hause im Garten, in einem Holzhäuschen aus lauter Bündner Holz und aus Engadiner Arvenholz. Ich nenne dieses kleine «Berghüttli» mein Atelier und habe die beteiligten Firmen beim Aufbau tatkräftig unterstützt. So sehe ich nun beim Schreiben auf unsere Hühner.

Sie sagen, Sie schreiben aus Freude und Leidenschaft, ist das Ihre Motivation geblieben?
Ja, daran hat sich nichts geändert. Als ich mit Schreiben begonnen habe, habe ich mir ja im Leben nie ausgemalt, dass ich eines Tages so erfolgreich werden könnte. Ich schreibe bis heute immer aus dem gleichen Antrieb heraus. 

Sie sind Bündner, siedeln Ihre Krimis in Graubünden und auch mal im Engadin an. Trotzdem scheinen Sie im Engadin wenig bekannt, täuscht das?
Nun ja, ich denke, dass ich bei der Leserschaft durchaus bekannt bin. Es liegt aber wohl auch daran, dass die Engadiner Medienlandschaft eher auf sich selbst bezogen ist. Als Churer gelte ich dort ja schon als Auswärtiger. Das Engadin ist eine Art Insel innerhalb des Juwels Graubünden. Im Gegensatz zu den Medien haben mich Leserinnen und Leser im Engadin aber sehr wohl gefunden. Vielleicht ändert das ja jetzt, was die Medien betrifft ... (lacht).

Dabei haben Sie ja auch familiäre Wurzeln im Engadin ...
... voller Stolz, genau. Meine längst verstorbene Grossmutter Antonette Rizzi stammte aus La Punt Chamues-ch und ist später nach Chur «ausgewandert». Und weil sie nur Romanisch konnte, haben wir anfänglich zuhause in Maladers sogar Romanisch mit ihr gesprochen. Ich habe unseren Stammbaum mal recherchiert und bin demnach zu einem Viertel Engadiner. Darauf bin ich auch stolz, denn das Engadin ist doch etwas ganz Spezielles. 

«Als Churer gelte ich im Engadin ja schon als Auswärtiger»


Bei Ihnen kommt viel zusammen, Kindheit, Schreibkunst, Heimat, dann auch noch Fernweh bei Ihrer Leserschaft. Ein spannendes Umfeld?
Ich lob' mich nicht gerne selber. Frag mich aber natürlich auch, weshalb ein Buch Erfolg hat oder eben nicht. Mein Slogan lautet: Das Leben ist zu kurz für langweilige Bücher. Es gibt fast nichts Schlimmeres, als am Abend ein langweiliges Buch zu lesen. Ich lebe hier, in Graubünden, wo das Engadin dazugehört und in all meinen Krimis einen Fixpunkt hat. Und ich verknüpfe die Leidenschaft mit den Naturerlebnissen und dem Leseerlebnis, welches die Menschen im besten Fall fordert. Auch wenn im Krimi der Mord immer nur Mittel zum Zweck ist, so geht es ja eigentlich darum, den Menschen in ihre Herzen zu blicken, die Pathologie der einzelnen Figuren erkennbar und erlebbar zu machen und Leserinnen und Leser so auf eine Reise zu den einzelnen Schicksalen mitzunehmen.

Keine leichte Aufgabe.
Es ist tatsächlich herausfordernd, sich einerseits in der Schwere, Tiefe und dem Leiden zu bewegen und andererseits die Natur zu beschreiben, welche die Luft zum Atmen gibt. So gesehen bin ich ein Botschafter Graubündens, und das bin ich sehr gerne.

Und Ihre Figuren?
Auch die haben einen engen Bezug zu Graubünden und dem Engadin. Giulia de Medici (die Protagonistin des neuen Krimis «Bündner Blutmond» der am 20. März erscheint, Anm. d. Red.) ist als Secondo in Pontresina aufgewachsen und bewusst ein fiktiver Name. Der Name der Alpinpolizistin Corina Costa aus den neueren Büchern ist da schon stärker an Pontresina angelehnt. Giulia de Medici hat ein Herz fürs Meer und eins für die Berge. Genau diese Mischung wollte ich. Und auch sie musste, wie viele andere auch, aus beruflichen Gründen das Engadin verlassen und nach Chur, also quasi schon fast ins Unterland, gehen. Damit wollte ich ganz bewusst auch das Dilemma aufzeigen, dass, so schön das Engadin auch ist, es manchmal einfach auch zu eng ist, um sich hier zu entwickeln. Junge müssen wegziehen, um zu studieren oder weshalb auch immer, aber sie finden meist auch wieder zurück. Ich habe das Engadin als Schauplatz gewählt, auch deshalb, weil es für ganz viele Menschen ein Sehnsuchtsort ist. Lesen sie die Bücher, dann können sie ihre alten Träume und Erlebnisse aufrecht halten.

Haben Sie selbst auch solche Erinnerungen?
Als ich im Heim war, war da ein Junge, dessen Mutter in St. Moritz im Palace Hotel arbeitete. Einmal im Monat durfte er zu ihr in dieses sagenumwobene Palace Hotel. Er hat mir immer erzählt, wie das war, mit dem Zug dort hinaufzufahren, ins Hotel zu kommen und all die Schönen und Reichen zu sehen. Während der Heimzeit haben wir regelmässig Ausflüge gemacht und sind viel und lange wandern gegangen. Wenn man an einem Frühsommertag in der frischen Luft und an glitzernden Seen vorbeimarschiert, in denen sich die noch verschneiten Berggipfel spiegeln, oder als Kind zum ersten Mal durch die Hochebene der Greina wandert oder auf der Fuorcla Surlej steht und auf die Berninagruppe schaut, das vergisst man sein Leben lang nicht mehr.

Die Churer Buchhändlerin Miriam Cahannes hat diesbezüglich mal geschrieben, Ihre Bücher würden einen schaurigen Sog entwickeln, der im krassen Gegensatz stünde zur wunderschönen Landschaft. Ist das nun eher Zufall oder schon Programm? 
Das ist Philipp Gurt live. Ich sage immer, man soll von dem schreiben, von dem man etwas versteht. So wie ich die Natur sehe, so versuche ich sie weiterzugeben. Darin ein Verbrechen aufzu­klären, ist für mich darüber hinaus einfach noch etwas ganz Besonderes. Die Kunst ist, die Figuren so tief und charaktervoll zu schreiben, dass es Platz hat, um die furchtbarsten Dinge zu schreiben, ohne dabei die Leserschaft in einem dunklen Loch zurückzu­lassen. Das Leben ist ja auch mal hell, mal dunkel. Oder so wie Giulia de Medici sagt, dass Berge nie schlechtes Wetter haben, einfach anderes. Und sie hat recht, denn in den Bergen muss man vor allem zwischen gefährlichem und ungefährlichem Wetter unterscheiden können. Das verstehen viele nicht. Deshalb versuche ich in meinen Büchern auch immer wieder, den Respekt vor den Bergen zu vermitteln. Auch Giulia schrieb: Wenn du in die Höhe gehst, dann verändert sich so vieles, auch die Gesetzmässigkeiten und Alltagssachen verlieren an Wichtigkeit und anderes an Wertigkeit.

Moment mal, Sie sprachen eben als Giulia de Medici ...
Das ist typisch Gurt. Ich bringe es zwar zu Papier, aber es ist tatsächlich die Figur, die solches schreibt. Wenn ich schreibe, was Giulia de Medici erlebt oder Landjäger Caminada, dann sind es ihre Erlebnisse. Ich bin dann nur das Sprachrohr meiner Figuren. Das verstehen viele nicht. Die Figuren sind eigenständig. 

«Herr Gurt, das Buch ist super, aber ...»


Wie recherchieren Sie Ihre Schauplätze, wie gehen Sie dabei vor?
Oh, da habe ich auch schon einen grauenhaften Fehler produziert. Eigentlich gehe ich so vor, dass ich mich grundsätzlich für eine Region oder eine Ortschaft entscheide. Im Fall des Mitte Juni erscheinenden Krimis «Die Tote im St. Moritzersee» habe ich mit den verschiedensten Personen vor Ort telefoniert, mit Touristikern, mit der Polizei oder mit anderen Einheimischen. Ich musste beispielsweise wissen, wo genau die Sonne im Juni untergeht und wie die Schatten liegen, wenn ich von einem bestimmten Punkt aus auf den See blicke. 

Sie erwähnten einen Fehler?
Weil ich nie mit dem ÖV unterwegs bin, habe ich doch tatsächlich in der Erstauflage von «Bündner Sturm» eine Figur in einem Nebensatz von St. Moritz in der Rhätischen Bahn bis Silvaplana weiterfahren lassen. I huera Tubel. Sofort haben mir Einheimische geschrieben, Herr Gurt, das Buch ist super, und es wäre schön, wenn es diese Bahnverbindung tatsächlich gäbe. Nach einer Runde Schämen und nach den ersten 15 000 gedruckten Exemplaren habe ich den Fehler dann auch korrigiert. Seither fährt sie mit dem Postauto weiter. So etwas darf einfach nicht passieren, und glauben Sie mir, ich habe viel daraus gelernt. 

Sie recherchieren also jeweils nicht vor Ort?
Nein, und das ganz bewusst, denn meiner Meinung nach muss einiges auch aus der Phantasie heraus passieren. Wenn ich alles schon vor Ort selber erlebe, dann fehlt mir diese. Natürlich recherchiere ich online oder durch Nachfragen, wo sich beispielsweise der Hof von Corina Costa befindet oder, für den neuen Krimi, wie die Kirche San Gian liegt und aussieht. Dafür habe ich auch mit dem dortigen Pfarrer gesprochen. Wenn x-Tausend ein Buch lesen, dann kommt jeder noch so kleine Fehler ans Tageslicht. 

Was ist am Gerücht dran, dass Ihre Bücher verfilmt werden sollen?
«Schattenkind» wird tatsächlich als Kinofilm produziert. Für einzelne andere Bücher laufen Gespräche mit Netflix, und die Produktionsfirma Cinema Royal hat sich für zwei Giulia-de-Medici-Bücher schon die Filmrechte gesichert, unter anderem für «Bündner Sturm». Die Verhandlungen sind weit fortge­schritten, aber bis keine Unterschriften vorliegen, so wie beim «Schattenkind», will ich auch nicht gross darüber sprechen.

Auf den sozialen Medien sind Sie richtiggehend ein Star.
Das hat sich einfach so ergeben. Wer beispielsweise auf Facebook aktiv ist, sieht, dass da sehr viel läuft. Viele, die meine Bücher kaufen, wollen mit mir in Kontakt treten. Ich bin ein sehr Nahbarer und wenn mir jemand auf meiner Internetseite oder auf Facebook etwas schreibt, so bekommt der oder die auch immer eine Antwort. Ich beantworte im Jahr schätzungsweise 5000 E-Mails. Und ich beantworte jedes einzelne, sogar Beleidigungen.

Tatsächlich?
Ja, die gibts aber zum Glück nur selten. Letztlich sind Beleidigungen immer auch Komplimente der Neider. Und wenns mal brenzlig wird, dann schicke ich die Giulia vorbei...

«Beleidigungen sind Komplimente der Neider»


Diesen Samstag lesen Sie um 16.00 Uhr an den 2. Silser Buchtagen aus dem neusten Krimi «Bündner Blutmond» mit Kommissarin Giulia de Medici der vier Tag später offiziell erscheint. 
Es ist eine eigentliche Premiere und damit das allererste Mal, dass ich aus diesem Buch lese. Ich freue mich sehr darauf.

Das Interview wurde aus Termingründen telefonisch geführt. Philipp Gurt liest am Samstag um 16.00 Uhr anlässlich der 2. Silser Buchtage im Arenas Resort Schweizerhof zum ersten Mal aus seinem neusten Kriminalroman «Bündner Blutmond». Weitere Informationen unter: www.philipp-gurt.ch und www.sils.ch.

Im Gespräch mit Philipp Gurt:
Der 56-Jährige wurde 1968 als siebtes von acht Kindern in eine arme Bergbauern­familie aus Maladers hineingeboren. 1972 wurden die Geschwister getrennt und Gurt wurde mittels fürsorgerischer Zwangsmassnahmen fremdplatziert und wuchs in der Folge in verschiedenen Kinderheimen und im Waisenhaus auf. Mit Anfang zwanzig schrieb er seinen ersten Roman, sechzehn Jahre später wurde sein erstes Buch veröffentlicht. Seine leidvollen Kindheitserinnerungen hat er 2017 im Bestseller «Schattenkind» verarbeitet. Im gleichen Jahr erhielt er den Schweizer Autorenpreis von GfK Entertainment, einer Partnerorganisation des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverbands SBVV. Er lebt und arbeitet in Chur und hat in den letzten Jahren regelmässig und erfolgreich Kriminalromane und andere Bücher geschrieben. Am 20. März erscheint sein neuester Krimi «Bündner Blutmond» mit der Hauptfigur, Kommissarin Giulia de Medici. 

Interview: Jon Duschletta