Der Ornithologe und Gymnasiallehrer Michael Widmer entdeckte die Welt der Heuschrecken vor 20 Jahren in Schaffhausen und veröffentlichte ein reich bebildertes Buch über deren Leben. Einführend stellte er die Eigenschaften der zu Unrecht als Heu-Schrecken bezeichneten, hüpfenden Graslandbewohner vor. Und immer wieder erstaunten wunderbare Nahaufnahmen von Lang- und Kurzfühlerschrecken mit ihrer Farbenpracht und Formenvielfalt. Die Kenntnis der zwei Gruppen sei das minimale Lernziel seines Vortrags, so Widmer. Deren Unterscheidung betrifft neben der Länge der Fühler auch viele andere Merkmale. Während die Kurzfühlerschrecken ihre Laute mit Hinterbeinen und Flügeln erzeugen, verwenden Langfühlerschrecken dazu nur die Flügel. Zudem legen Letztere ihre Eier mit einer langen Legeröhre in den Boden oder in Baumrinden. 

Häutung zur Volljährigkeit
Die Entwicklung vom Ei zum Geschlechtstier verläuft bei den Heuschrecken hemimetabol. Das bedeutet, dass deren Larvenstadien schrittweise grö­sser werden, bis zu zehn Häutungen durchmachen und die letzte Häutung zum Imago führt. Ein Puppenstadium mit vollständiger Metamorphose wie etwa bei Käfern oder Schmetterlingen gibt es nicht. Wie fast alle Insekten sind auch Heuschrecken beflügelt. Je ein Paar Vorder- und Hinterflügel ermöglicht einen kurzen Flug, der sich meist auf wenige Meter beschränkt. Dem wohlbekannten Singen und Zirpen der Heuschrecken liegt ein komplexes Kommunikationssystem zugrunde. Genauso wie der Gesang von Singvögeln ist er artspezifisch und ermög­licht eine exakte, akustische Artbestim­mung. Mit eindrücklichen Makro- Videos veranschaulichte Widmer ganz unterschiedliche Laute. Schnarrende, zirpende, rätschende, summende und trommelnde Töne, oft stakkatoartig anschwellend, laut und leise, mit Pausen oder anhaltend, bilden die Geräuschkulisse, einem Wiesenkonzert gleich. Keine andere Insektengruppe hat ein derart vielfältiges Lautinventar entwickelt wie die Heuschrecken. Es sind Balz- und Rivalengesänge der Männchen, manchmal mit leisen Antworten der Weibchen. Die Lauterzeugung erfolgt mittels einer Schrillleiste, die einer Zahnradbahnstange ähnelt. Diese wird über eine Schrillkante gezogen. Bei den Langfühlerschrecken geschieht dies mit den Vorderflügeln, bei den Kurzfühlerschrecken zwischen den Hinterbeinen und den Vorderflügeln. 

Weniger Heuschrecken in den Höhen
Im zweiten Teil legte der Referent den Fokus auf die Heuschreckenfauna des Engadins. Passend dazu ein Foto vom Engadiner Skimarathon und die Frage «Wo sind die Heuschrecken im Winter?» Fast alle sind tot. Bei den meisten Arten überwintern nur die Eier unter der Schneedecke, im Frühjahr schlüpfen dann daraus die Larven. Von den 106 Heuschreckenarten der Schweiz kommen 44 Arten im Unterengadin vor und 26 Arten erreichen auch das höher gelegene Oberengadin. In Anbetracht der relativ kleinen, hoch gelegenen Region ist die Orthopteren-Fauna, so der Fachbegriff, im Engadin sehr reichhaltig und sie umfasst einige ganz spezielle Arten. Die deutliche Abnahme entlang des Höhengradienten ist klimabedingt, denn wechselwarme Tierarten sind auf einigermassen milde Temperaturverhältnisse angewiesen. Das Vorkommen der Heuschrecken des Engadins ist hervorragend dokumentiert. Das geht vor allem auf die Erhebungen und Studien von Dr. Adolf Nadig (1910–2003) zurück. Der langjährige Rektor am Lyceum Alpinum in Zuoz gehört zu den besten Heuschreckenkennern und -forschern. Dessen Werke und Sammlungen lassen heute wertvolle Vergleiche zu und aktuelle Veränderungen sind auf den Klimawandel zurückzuführen. 

Klimagewinner und Verlierer
So hat sich beispielsweise die Feldgrille, die zu den Langfühlerschrecken gehört, ausgehend von Ramosch seit 1973 stetig innaufwärts ausgebreitet und kommt heute bis nach Ardez und neu auch im Münstertal vor. Neben Gewinnern des Klimawandels dürfte es aber auch Verlierer geben. So werden eine Reihe spezialisierter kälteadaptierter Hochgebirgsarten zunehmend Proble­me bekommen, weil sie irgendwann nicht mehr nach oben ausweichen können und zunehmend von andern Arten konkurrenziert werden. 

Es gibt auch Arten, die «absteigen». So dokumentierte Nadig das östliche Heupferd noch in den 1940er-Jahren in Zuoz, als dort während des Zweiten Weltkrieges Getreide angebaut wurde. Seither ist diese grosse Heuschreckenart nur noch im Unterengadin verbreitet. Widmer stellte zum Schluss eine ganze Reihe weiterer Besonderhei­ten unter den Heuschrecken des Engadins in ihren Lebensräumen mit umwerfend schönen Makrofotos vor. Etwa die Gestreifte Zartschrecke, die erst 1999 im Unterengadin entdeckt wurde und in Trockenhängen lebt, die seltene Laubolz-Säbelschrecke oder die Blauflügelige Ödlandschrecke, die im Vorjahr zum Tier des Jahres gekürt wurde und ebenfalls punktuell im Unterengadin vorkommt. 

Mit Fledermausdetektor unterwegs
Auch alle drei Heupferd-Arten sind auf das Unterengadin beschränkt. Zu den auffälligsten und grössten Arten gehören auch der Warzenbeisser oder die Grosse Höckerschrecke, die auch im Oberengadin leben und extensiv genutzte Wiesen und Weiden als Lebensräume brauchen. In den trockenen Magerwiesen finden sich die auffällige Rotflügelige Schnarrschrecke oder ein sehr seltener, nur in Südbünden und im Simplongebiet vorkommender Heugümper, die Alpine Bergschrecke. 

Widmer konnte sie kürzlich bei S-chanf aufspüren mit Hilfe eines Fledermausdetektors, der auch Ultraschalllaute für das menschliche Gehör hörbar macht. Auf alpinen Rasen leben noch wenige, extrem kältetolerante Hochgebirgsarten, die sich seit dem Gletscherrückzug vor 12 000 Jahren auf diesen Höhen halten konnten. Neben der auf Muottas Muragl zu findenden Alpen Keulenschrecke, die bis auf 3100 Metern Höhe vorkommt, betrifft dies die Gewöhnliche und die Nordische Gebirgsschrecke. Auch auf Auen spezialisierte Arten wie der seltene Kiesbank-Grashüpfer oder die Türks Dornschre­cke kommen vor, allerdings nur im Unterengadin entlang des Inns. 

Mit seinem Fokus auf die Heuschrecken des Engadins, motivierte Michael Widmer, noch genauer hinzuschauen und den hüpfenden Graslandbewoh­nern und den hier noch vielerorts intakten Lebensräume respektvoll zu begegnen. 

 Autor: David Jenny