«Engadiner  Post/Posta  Ladina»: Adrian Arquint, am Donnerstag beginnt die Hochjagd in Graubünden. Sie selbst wären einer von rund 5500 Jagenden, verzichten aber heuer auf die Jagd. Weshalb?
Adrian Arquint*: Die Lage in Zusammenhang mit der bevorstehenden Abstimmung zum revidierten Jagdgesetz, mit dem Wolf und auch mit Covid-19 ist aktuell zu unsicher. Deshalb habe ich mich kurzfristig dazu entschlossen, die Stellung in der Zentrale zu halten. Der momentane Betrieb lässt es leider einfach nicht zu, und ich könnte unter diesen Umständen auch gar nicht mit der nötigen Ruhe zur Jagd gehen.

Was wäre dann Ihre bevorzugte Jagd?
Eigentlich die Gamsjagd in den Bergen in möglichst weit abgelegenen Gebieten. Aber ich schätze auch die Hirschjagd sehr und das Hüttenleben mit meinen Jagdkollegen.

Wann waren sie letztmals auf der Jagd?
2017. Danach habe ich mich auf mein neues Amt als Jagdinspektor konzentriert und auf die Jagd verzichtet. Zumal im Vorfeld meiner Wahl auch die Diskussion entbrannte, ob der Amtsleiter überhaupt zur Jagd gehen darf oder nicht.

Wenn Sie im Alltag Jägerinnen und Jägern begegnen, um was drehen sich die Gespräche, um Wetter und Jagderfolg oder um das jagdliche Regelwerk, welches Sie zusammen mit der Wildhut mit beeinflussen und gegenüber den Jagenden zu vertreten haben?
In meiner Funktion als Amtsleiter geht es heute natürlich häufig um Jagdbetrieb und -planung und vor allem auch um gute Ideen, in welcher Weise man die Jagdplanung für das Gebiet des jeweiligen Jägers optimieren könnte ... Das war früher anders, da war ich als normaler Jäger unterwegs und genoss immer auch das abendliche Hüttenleben mit all seinen Geschichten.

Graubünden hat einen anhaltend hohen, vielleicht gar zu hohen Bestand an Schalenwild wie Hirsch und Reh. Sind Bündnerinnen und Bündner schlechte Jäger oder sind die jagdlichen Einschränkungen einfach zu streng?
Die Bündnerinnen und Bündner sind gute Jägerinnen und Jäger. Aber es braucht gewisse Regeln, wenn rund 5500 die Jagd ausüben. Wir haben hohe Schalenwildbestände, das ist richtig. Die sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch dank der sehr guten Bedingungen angewachsen. Hirsch- und Rehwild sind Wildtierarten, die sich stark reproduzieren. Hinzu kommt, dass wir milde Winter und auch nicht immer ideale Jagdbedingungen mit wenig Niederschlag und Schneefall hatten, was die Jagd grundsätzlich erschwert. Wenn man aber die Abschusszahlen der letzten Jahre anschaut, dann sieht man, dass die Jägerschaft einen riesengrossen Einsatz erbracht hat, um die Schalenwildbestände zu regulieren. Man spricht ja immer vom Rothirsch. Dabei geht aber gelegentlich vergessen, dass wir auch Reh- und Gamswild haben, das teilweise ebenfalls einen grossen Einfluss, beispielsweise auf die Waldverjüngung haben kann.

Milde Winter, zu schönes Wetter, was fliesst sonst noch in die Bestandsregulierung mit ein?
Neben diesen Umweltbedingungen sind da noch Stichworte wie tiefere Fallwildzahlen zu nennen, die Intensivierung der Landwirtschaft oder auch der Störfaktor Mensch-Tourismus. Alles zusammen trägt dazu bei, dass das Wild zum Teil konzentrierter in den Wäldern steht. Und auch der Jagddruck beeinflusst das Verhalten der Wildtiere.

Sie sprachen den Wald-Wild-Konflikt an. Was ist darunter zu verstehen, und wie konkret ist Südbünden davon betroffen?
Die Wald-Wild-Situation wird von den Förstern beurteilt, und wir erhalten von diesen jährlich einen Bericht zur aktuellen Lage. Im Prättigau, der Bündner Herrschaft, im Churer Rheintal bis Domleschg und in Mittelbünden haben wir sicherlich noch grosse Konflikte, wo wir auch die Zielvorgaben noch nicht erreichen konnten. In Südbünden sieht es diesbezüglich besser aus.

Nun ist die Jagd als solche in verschiedenen Kreisen umstritten. Wie würden Sie einem Jagdgegner Sinn und Zweck der Bündner Hochjagd erklären?
Die Jagd erfüllt wichtige Aufgaben im Bereich Tier- und Lebensraumschutz. Mit der Regulierung der Schalenwildbestände sollen Konflikte im Wald, aber auch Konflikte in der Landwirtschaft oder innerhalb der Tierarten selber entschärft werden. Die Jagd erfüllt auch eine Aufgabe, indem sie ein sehr hochwertiges Nahrungsmittel produziert und zur Verfügung stellt. Zudem ist die Jagd für viele Bündnerinnen und Bündner eine intensiv betriebene Freizeitbeschäftigung, bei der sie sich das ganze Jahr über mit Wildtieren und ihren Lebensräumen befassen. Beispielsweise mit den vielen freiwillig geleisteten und wichtigen Hegestunden, welche auch nicht jagdbaren Tieren zugute kommen. Die Jagd darf aber nicht eine reine Aufgabenerfüllung sein. Jagd soll dann möglich sein, wenn es die Bestände zulassen und sie nachhaltig ist. Das versuchen wir mit unserem Monitoring zu gewährleisten.

Stichwort Nachhaltigkeit. Weshalb hat man sich so lange schwergetan mit dem Verbot bleifreier Munition?
Ich glaube nicht, dass man sich damit schwergetan hat. Schon früh wurde das in der Gesetzgebung so festgelegt, damit die Regierung den Wechsel vornehmen kann, sobald feststand, ob die bleifreie Munition auch praxistauglich war, also der bleihaltigen ebenbürtig war in Bezug auf den Tötungseffekt oder in Sachen Sicherheit. Mittlerweile bieten viele Munitionsanbieter solche Munition an, die sehr gut und absolut tauglich ist für die Bündner Hochjagd.

In dreieinhalb Wochen stimmt die Schweiz über das revidierte Jagdgesetz ab. Eine Frage vorneweg: Wie viel Sinn macht ein eidgenössisches Gesetz, wo ja nicht mal jeder Kanton die Jagd kennt und wo doch ganz unterschiedliche Jagdsysteme zur Anwendung kommen, beispielsweise die Revier- oder, wie in Graubünden, die Patentjagd?
Es entspricht nun mal unserem politischen System, dass Parlament und Volk solches festlegen können. Es macht aber auch Sinn, dass es kantonale Gesetzgebungen gibt, weil es doch sehr viele Unterschiede in den Kantonen gibt. Die Mischung macht es aus.

Welche relevanten Aspekte beinhaltet das revidierte Jagdgesetz für Sie, einmal abgesehen vom Überthema Wolf?
Wenn man die vor 140 Jahren eingeführte, eidgenössische Jagdgesetzgebung anschaut und gleichzeitig sieht, wie heute deutlich mehr grössere Wirbeltierarten bei uns leben als damals, dann darf man sicherlich von einer eigentlichen Erfolgsgeschichte sprechen. Trotzdem ist und bleibt die Modernisierung des Wolfsmanagements aus unserer Sicht der wichtigste Aspekt der Vorlage. Neben diesem gibt es aber eine Vielzahl weiterer, sehr wichtiger und nützlicher Aspekte im Bereich Tier-, Natur- und Artenschutz. So die bereits erwähnte Nachhaltigkeit, die bleifreie Munition oder die für die Vernetzung der Wildtiere in unserer doch sehr intensiv genutzten Landschaft so wichtigen Wildtierkorridore. Für uns als kantonale Fachstelle wäre auch die finanzielle Unterstützung durch den Bund wichtig, mit welcher wir unsere Arbeit in den Bereichen Arten- und Lebensraumschutz verstärken könnten. Häufig wird nämlich vergessen, dass wir nicht nur den Jagd- und Fischereibetrieb ermöglichen, sondern viele Ressourcen auch im Schutzbereich einsetzen.

Besonnene Jäger sehen den Wolf nicht als direkte Konkurrenz, sondern als wichtige Figur für ein ökologisches Gleichgewicht der Natur, genauso wie die Tierschützer auch. Weshalb sind sich die beiden Lager trotzdem uneins?
In einem Ökosystem wie dem unseren, wo auch der Mensch eine wichtige Rolle spielt und grossen Einfluss darauf nimmt, muss man das Ganze vernetzt betrachten und darf nicht von einer einzigen Tierart ausgehend argumentieren. Wolf oder auch Biber haben ihre Daseinsberechtigung und ihre positive Wirkung auf ebendieses Ökosystem. Langfristig ist dies aber nur möglich, wenn das Wildtiermanagement auch entsprechende Instrumente hat, um dort einzugreifen, wo es Konflikte und Probleme gibt. Das ist vergleichbar mit dem Management des Steinwilds, welches seit fast 50 Jahren, beispielsweise beim geschützten Steinbock, bestens funktioniert. Da hat man bei heute doppelt so hohem Bestand die Konflikte weitgehend entschärfen können.

Ein Hauptvorwurf gegen das revidierte Jagdgesetz lautet, dass die Kantone damit freie Hand hätten, Wölfe präventiv abzuschiessen, noch bevor diese irgendwo Schaden anrichten. Wollen die Kantone, will der Kanton Graubünden den Wolf ausrotten?
Nein, gar nicht. Gerade Graubünden hat in den letzten Jahren gezeigt, dass auf allen Ebenen versucht wurde, ein Zusammenleben mit dem Wolf so gut wie möglich zu ermöglichen. Man hat beispielsweise eine Fach- und Beratungsstelle Herdenschutz eingeführt. Man merkt nun aber auch, dass die grossen Bemühungen, welche die Landwirtschaft in den letzten Jahren unternommen hat, um ihre Herden zu schützen, durch die wachsende Wolfpopulation und unter dem Einfluss zunehmender Konflikte mit Problemwölfen an ihre Grenzen kommt. Und auch, dass die Bereitschaft, ein Zusam-menleben zu ermöglichen, in den betroffenen Kreisen nicht mehr so gegeben ist wie früher.

Kürzlich hat ein Vorfall in der Val Roseg für Schlagzeilen gesorgt, wo mutmasslich ein Wolf ein Kalb gerissen hat. Welchen Einfluss auf den zukünftigen Umgang mit Mutterkühen auf den Weiden und Alpen können solche Ereignisse haben?
Es ist für uns durchaus besorgniserregend, wenn wir sehen, dass Wölfe auch Kälber in Mutterkuhherden angreifen. Es bereitet uns auch Sorgen, weil Schutzmassnahmen bei Rindviehherden noch viel schwieriger umzusetzen sind als bei Schaf- oder Ziegenherden. Dass Kühe sensibel auf äussere Einflüsse reagieren können, dass war schon vor dem Wolf bekannt. Jetzt, mit dem sehr unberechenbaren Faktor Wolf, verstärkt sich die Problematik. Ich denke, dass die Frage der Entflechtung zwischen Mutterkuherden, Herdenschutzhunden, Wanderern oder Bikern in Zukunft eine immer stärkere Bedeutung erhalten wird.

Und aus Sicht von Bäuerinnen und Bauern?
Man merkt, dass die Bereitschaft, sich mit dem Wolf irgendwie zu arrangieren, in betroffenen Gebieten mehr und mehr schwindet. Ich denke da an Landwirte, die in stark betroffenen Gebieten mit hoher Wolfspopulation wie der Surselva schon heute an die Grenzen des Zumutbaren kommen. Da bröckelt die Bereitschaft eines «Miteinanders» doch merklich.

Auch wenn Sie heuer nicht selbst zur Jagd gehen können. Was erwarten und erhoffen Sie sich von der diesjährigen Bündner Jagd?
Einerseits, dass wir mit der ganzen Jagd bis Dezember die vorgegebenen Abschusspläne erfüllen können. Dann natürlich, dass sich keine Unfälle ereignen und das Wetter mitspielt, so, dass Jägerinnen und Jäger eine gute und erlebnisreiche Jagdzeit in der Natur erleben können. «In bocca d’luf!»

*Dr. med. vet. Adrian Arquint aus Zizers ist in Scuol geboren und aufgewachsen. Der 49-Jährige ist seit dem 1. Februar 2018 Vorsteher des Amtes für Jagd und Fischerei Graubünden. Der heutige Jagdinspektor studierte an der Uni Zürich Veterinärmedizin und doktorierte 2002 zum Thema «Bovine Virus Diarrhoe». Zwischen 2002 und 2009 war er Assistenztierarzt für Gross- und Kleintiere und übernahm danach die Leitung des Inspektorats Primärproduktion beim Amt für Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit (ALT) in Chur. Die EP/PL hat in der Ausgabe vom 18. August ihre traditionelle Jagdbeilage publiziert, unter anderem mit einem Beitrag von Adrian Arquint über die aktuellen Neuerungen der Bündner Hochjagd 2020.

Interview und Foto: Jon Duschletta