Die Kritik an der Amtsführung des St. Moritzer Gemeindepräsidenten Christian Jott Jenny ist nicht neu. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2019 gewährte ihm der Vorstand eine Pensumsreduktion von zehn auf 90 Prozent. Dies mit der Begründung, dass er neben seinem Amt als Gemeindepräsident auch weiterhin künstlerischen Aufgaben nachgehen können soll. Eine Reduktion um weitere zehn Stellenprozente erfolgte im letzten Sommer. Jenny wollte mehr Zeit in die Standortentwicklung investieren. Gleichzeitig wurde das Pensum von Gemeindevorstand Reto Matossi um zusätzliche 30 Prozent erhöht. Er sollte sich vor allem um die Aufgaben kümmern, die Jenny aufgrund von verschiedenen Rückmeldungen vernachlässigt haben soll: Die organisatorische Führung der Gemeindeverwaltung, beispielsweise. Schon früher, im März 2020, war durch eine Indiskretion öffentlich geworden, dass sich die St. Moritzer Exekutive uneins über die Amtsführung ist. Der Gemeindevorstand verlangte vom Präsidenten mehr Präsenz, eine straffere Führung und bessere Dossierkenntnisse.
Die im August beschlossene Pensumsverschiebung stiess bei den politischen Parteien in St. Moritz auf unterschiedliche Reaktionen. CVP und SVP kritisierten scharf, die FDP, die Next Generation und der Vertreter der GdU zeigten sich froh, dass innerhalb des Gremiums eine Lösung gefunden werden konnte.

Verfassungsmässig möglich?
Anlässlich der letzten Gemeinderatssitzung vom 29. Januar brachte CVP-Gemeinderat Fritz Nyffengger das Thema erneut aufs Tapet. Dies, nachdem der Gemeindevorstand in seiner Dezembersitzung beschlossen hatte, die Lösung vom August 2020 bis zum Ende des laufenden Jahres fortzuführen. Nyffenegger monierte im Wesentlichen, dass aufgrund der neuen, vom Souverän im vergangenen November mit einem hohem Ja-Stimmenanteil angenommen Verfassung eine solche Lösung eigentlich gar nicht mehr möglich sei und höchstens mit den Übergangsbestimmungen zu begründen wäre. «Der Gemeindepräsident führt die Verwaltung, dies ist seine Hauptaufgabe. Wenn aufgrund von Rückmeldungen aus den Abteilungen gemeldet wird, dass die Führung durch den Vizepräsidenten besser gewährleistet ist, stimmt etwas nicht», sagte Nyffenegger unter anderem.
Er stört sich auch daran, dass sich der Gemeindepräsident aus fast allen Gemeindekommissionen verabschiedet hat, mit der Begründung, es genüge, wenn er informiert werde. Auch in der wichtigen Regionaplanungskommission werde St. Moritz nun durch den Vizepräsidenten vertreten. In der Gemeinde liefen grosse Projekte wie beispielsweise die Ortsplanung, die Gestaltung der Seepromenade, das Alterszentrum oder der Neubau des Schulhauses. «Umso wichtiger ist die Präsenz des Gemeindepräsidenten in den verschiedenen Gremien. Nur so hat er die Möglichkeit, die Zukunft von St. Moritz direkt mitzugestalten», sagt er.

Resignation feststellbar
Die Meinung von Nyffengger wird von der CVP-Fraktion geteilt. Fraktionspräsident Beat Mutschler merkt persönlich an, dass die jetzt geltende Lösung wohl opportun sei, aber sicher nicht richtig. Jenny mache gewisse Sachen wirklich gut, sei aber der falsche Mann an diesem Posten. «Er hat in dieser Funktion viel mehr Aufgaben zu erfüllen, als nur die Gemeinde gegen aussen zu repräsentieren.»
Gian Marco Tomaschett ist der einzige SVP-Vertreter im Gemeinderat. Er ist der gleichen Meinung wie CVP-Ratskollege Fritz Nyffenegger. Tomaschett stellt bei sich und anderen Ratsmitgliedern eine gewisse Resignation fest, weil dieses Thema immer wieder aufs Tapet komme, sich aber nichts ändere. «Nur, was können wir machen?», stellt er die rhetorische Frage. Das habe man auch unter den Fraktionen besprochen, ohne zu einem Resultat zu kommen. Einen Rechtsstreit vom Zaun zu brechen, lohne sich nicht und würde dem Image von St. Moritz nachhaltig schaden. So bleibe wohl nichts anderes, als die zwei Jahre abzuwarten, in der Hoffnung, dass es dann zu einem Wechsel komme.
«Die Arbeit im Gemeinderat und in den Kommissionen hat sich komplett verändert», stellt Tomaschett fest. Jenny sei entweder nicht anwesend und wenn doch, interessiere er sich kaum für die Sachgeschäfte und bringe selber keine Vorschläge ein. Als Beispiel nennt er das Projekt einer regionalen Eishalle. Im Wahlkampf habe Jenny gesagt, wie wichtig ihm das Projekt sei und dass er sich dafür engagieren werde. Anlässlich einer Sitzung der Regionaplanungskommission, Jenny war damals noch dabei und Tomaschett als Vertreter der Kommission Eishalle eingeladen, habe er von diesem Engagement aber nichts gespürt.

Dankbar für pragmatische Lösung
Deutlich positiver wird diese Arbeitsteilung von der FDP-Fraktion beurteilt. «Der Gemeindevorstand ist eine Kollegialbehörde, und wenn sie mit dieser Lösung zusammen das Bestmögliche für unsere Gemeinde leisten können, profitieren wir alle davon», sagt Fraktionspräsidentin Prisca Anand. In einer sehr schwierigen Zeit und zusammen mit den vielen anderen Themen, die das Gremium zu bearbeiten habe, sei eine gute, effiziente und lösungsorien-tierte Zusammenarbeit sehr wichtig. Die FDP beurteilt den eingeschlagenen Weg als verfassungskonform. In Artikel 64 der neuen Verfassung stehe, dass die Behörden und Kommissionen bis zum Ablauf der Amtsperiode nach bisherigem Recht im Amt bleiben würden. Die Next Generation ist, so Claudia Aerni, dankbar für die pragmatische Lösung, die der Vorstand gefunden hat, auch wenn diese vielleicht nicht dem Standardprozedere entspreche. «Wir vertrauen darauf, dass der Entscheid des Vorstandes die beste Lösung für die Zusammenarbeit im Gremium ist.» Eine Meinung, die auch von Maurizio Cecini von der GdU geteilt wird. «Das ist eine Sache, die der Vorstand unter sich regeln muss. Wenn er mit diesem Modell gut arbeiten kann, ist das für mich in Ordnung.»

Aufgabenerfüllung gewährleistet
«Der Gemeindevorstand ist überzeugt, dass mit dieser Regelung die Gemeindeführung und die Aufgabenerfüllung des Gemeindevorstandes gewährleistet werden kann», sagt Gemeindevizepräsident Reto Matossi. Dass Jenny weiterhin in einem reduzierten Pensum arbeiten kann, wird vom Gemeindevorstand mit den Übergangsbestimmungen und dort ebenfalls mit Artikel 64 begründet. In den Erläuterungen zur Gemeindeverfassung steht auch, dass die Pensumsreduktion nicht dazu führen darf, dass der vollamtliche Charakter ausgehöhlt wird. Als minimales Pensum werden 90 Prozent genannt, wobei die Aufgabenerfüllung gewährleistet bleiben muss, allenfalls durch die Übernahme von Aufgaben durch ein anderes Vorstandsmitglied. «Das Vollamt wird mit der neuen Verfassung enger ausgelegt. Eine mathematische Antwort gibt es in dieser Frage aber nicht», betont Matossi.

Autor: Reto Stifel

Foto: Daniel Zaugg