Jon Steivan Peer verkörpert das Lebensgefühl «Pachific». In der grössten Hektik strahlt der gelernte Forstwart eine Ruhe aus, stets aufs Wohl seiner Gäste bedacht.
In Sastaglia wartet bereits der Pferdeschlitten auf die Winterfans. Sobald das Gepäck verstaut und die Gäste in warme Decken und Schafsfelle gepackt sind, beginnen die Pferde unruhig am Karabiner zu zerren. Peer arbeitet in S-charl mit acht Freibergern. Die freundlichen Zugpferde kennen die Strecke in- und auswendig. Täglich finden je nach Auslastung bis zu sechs Fahrten statt. In diesem Winter zählt Peer wieder Jon Pitschen, der bereits das vierte Jahr für ihn arbeitet und Martina Stauffer, die letzten Winter dazugestossen ist, zu seinen Angestellten.
Seit sieben Jahren führt Jon Steivan Peer die «Schlittrada S-charl». Davor fuhr er zwölf Jahre lang für den Reitstall San Jon die Gäste in die ehemalige Bergbausiedlung.
Mit 21 Jahren entfachte der Job im Reitstall Wertmüller in Vulpera seine Leidenschaft für Pferde. Er hatte damals nur den praktischen Teil der Prüfung zum Elektriker bestanden, da ihn die Schule nicht interessiert hatte. Der junge Jon Steivan stand selber zu sehr unter Strom; einige «Saufereien» und Streiche führten ihn bis zum Jugendrichter. Die Rebellion, erzählt Peer nachdenklich, hätte viel mit der Strenge des Vaters zu tun gehabt. «In der Pubertät ging ich ab wie ein Hund, der lange an der Kette gelegen hatte.»

Bereit für das grosse Abenteuer
Sein Vater, Bruder der Schriftsteller Oskar und Andri Peer, hatte mit 32, im Jahr, als Jon Steivan als letztes von drei Kindern geboren wurde, einen schweren Stromschlag erlitten, wodurch er fortan von den Knien abwärts gelähmt war. Der Schicksalsschlag entfachte aber erst recht den Ehrgeiz des Vaters. Er packte jeweils Steine in seinen Rucksack, stieg damit die Treppe rauf und runter, um für die Jagd zu trainieren. Schon als Dreijähriger durfte Jon Steivan beim grossen Abenteuer mit dabei sein, auf dem Rücken des Vaters, aus dem Rucksack blinzelnd. Gerne erinnert sich Peer an die Ovo morgens im Licht der Petrollampe, bevor er mit dem Vater in den Wald aufbrach. Trotz der Strenge war ihm der Vater der beste Freund. Er versorgte ihn regelmässig mit Literatur. Begierig las er alle Bände von «Der stille Don» von Scholochow – anstatt seine Hausaufgaben zu machen. Der literarische Geist in der Familie warf aber auch Schatten über Peers Kindheit. So hätte seine Mutter stets versucht, etwas Besonderes aus ihm zu machen. Noch heute bezeichnet er sich als schwarzes Schaf der Familie.

Energie aus der Natur schöpfen
Die Natur ist das, woraus Peer auch an ungastlichen Tagen Energie schöpft. «Die Landschaftsstimmungen sind jeden Tag anders.» Wenn der Vollmond das tief verschneite S-charl hell erleuchtet, und er alleine unterwegs ist, dann singt er zuweilen vor lauter Glück.
Die Laute der Gäste sind inzwischen verhallt. Zu hören sind nur die Hufe der Pferde auf dem Schnee und das Rascheln des Geschirrs. Rechts schlängelt sich die Clemgia durchs Tal, ein kleiner Bach, der sich im Sommer und Herbst in einen reissenden Fluss verwandeln kann, der regelmässig ganze Strassenabschnitte wegreisst. Links türmen sich die weichen Gesteinsmassen, welche die Landschaft in der warmen Jahreszeit ständig neu formen, im Hintergrund die mächtigen Felsen.
Nicht immer konnte Jon Steivan Peer die Kraft der Engadiner Bergwelt so bedingungslos geniessen.
Nachdem er in seinen Zwanzigern als Forstwart erfolgreich ein eigenes Unternehmen geführt hatte, verliess ihn mit 32 seine erste Frau, und er blieb mit zwei kleinen Kindern und einer Landwirtschaft mit Schafen und Geissen in Bos-cha bei Guarda zurück. Fortan zog er die Kinder alleine gross. Wenn er um finanzielle Unterstützung bat, hiess es, er führe doch eine Landwirtschaft. Darunter litt die Erziehung seiner Kinder, für die schlicht zu wenig Zeit blieb. Er hätte nicht alles richtig gemacht, sagt Peer nachdenklich. «Ich bin halt einer vom alten Schlag.» Fürs Materielle war gesorgt, aber die Mutterrolle konnte er nicht übernehmen.

«Die Frauen liefen mir davon»
1995 bekam er mit seiner zweiten Frau nochmals einen Sohn, dessen Erziehung diesmal aber ganz in den Händen der Mutter lag. So ging seine Frau arbeiten, um dem Sohn, der dem Vater beim Heuen half, einen Lohn zu bezahlen, wie Peer lachend erzählt.
Leider sollte auch diese Ehe nicht für immer halten. «Die Frauen liefen mir alle davon, die Pferde hingegeben blieben bei mir, obwohl es Fluchttiere sind», scherzt Peer.
Sein ältestes Pferd ist 29 und geniesst bei ihm längst seinen Ruhestand. Neben den Pferden hält er mittlerweile noch drei Yacks und neunzehn Hühner. Peer, der in diesem Jahr 65 geworden ist, denkt langsam an seinen Ruhestand. Seine Tochter erwartet mit ihrem Partner in wenigen Tagen ihr erstes Kind; Peer freut sich sichtlich, zum ersten Mal Grossvater zu werden. Das junge Paar will den Hof und die «Schlittrada» übernehmen. Die Tradition liegt Peer am Herzen. Er bedauert, dass alte Bräuche zunehmend verschwinden und sich das Unterengadin zu sehr an St. Moritz orientiere. Das, was ihn als einzigen von 17 Cousins und Cousinen über all die Jahre im Tal gehalten hatte, das «Pachific» gehe zunehmend verloren.

Pachific – bis nach Russland
Inzwischen sind die Pferde vor der kleinen Kapelle im Val S-charl zum Stehen gekommen. Im Gasthaus Mayor erwartet sie Dominique Mayor mit seinem Team, das mit Kaffee und Kuchen, Bündner Spezialitäten und einem Halbpensions-Menü aufwartet. Aufwärmen können sich die Gäste im hauseigenen Hotpot und in der Sauna.
Sobald die Urlauber mit ihrem Gepäck in der warmen Stube sind, reibt Peer als Erstes die verschwitzten Pferde trocken. Sie haben sich eine Pause verdient. Eine gute halbe Stunde benötigt Peer, um die Pferde abzuzäumen und sie in den Stall zu bringen, wo frisches Heu auf sie wartet.
Erst dann kann auch er sich bei einer heissen Schokolade aufwärmen. Früher machte ihm die Kälte überhaupt nichts aus. Oft fuhr er sogar ohne Handschuhe. Erst in den letzten Jahren sei er empfindlicher geworden. Dagegen helfe aber gute Technik, bei extremen Minustemperaturen ein Tiefkühlanzug.

Sobald die Übergabe geregelt ist, will Peer seinen Rucksack packen. Er will von Kanada nach Alaska reiten und zusammen mit einem Sprachforscher und Hunden über die Beringstrasse bis nach Russland reisen.
Zwei Jahre lang. Pachific.
    

Text: Bettina Gugger