Die fünfjährige Marie-Antonella hat neue Schuhe, weisse, mit einem Puma drauf. «Gretta, guarda, guarda», ruft das Mädchen ganz aufgeregt und hält einen Schuh in die Höhe. Marie-Antonella ist an diesem Morgen für die erste halbe Stunde nicht mit ihrer Kindergartenklasse zusammen, sondern besucht gemeinsam mit der sechsjährigen Inas die Romanischlektion. Empfangen werden die Mädchen von Gretta Caviezel. Die Kindergärtnerin aus Tschlin ist eigentlich bereits im Ruhestand, hat aber als Vertretung in diesem Jahr die Aufgabe übernommen, Kindergärtlerinnen und Kindergärtler beim Romanischlernen zu unterstützen.
Hilfe bekommt sie an diesem Morgen von der Schnecke Babetta. Die Handpuppe ist sehr beliebt bei den Kindern. Babetta möchte wissen, ob die Kinder etwas über ihr Wochenende erzählen möchten. Inas, deren Eltern aus Syrien stammen und die drei ältere Geschwister hat, spricht schon gut Romanisch und erzählt gerne, dass sie neue Hosen und ein neues T-Shirt mit einer Katze drauf bekommen hat. Marie-Antonella kommt aus einer portugiesischen Familie und geht erst seit August in den Kindergarten. Als sie auf Portugiesisch von ihrem Wochenende erzählt, meint Inas: «Ella nu sa amo rumantsch» (sie spricht noch kein Romanisch), woraufhin das kleine Mädchen rasch und mit Nachdruck ruft: «Schi, schi!»
Die Hälfte ist romanischsprachig
Gretta Caviezel ist an zwei Morgen pro Woche in den Räumlichkeiten der Dorfbibliothek, um den Kindern auf spielerische Weise Romanisch beizubringen. «Zu Beginn des Schuljahres sind die Kindergärtnerinnen mit grossen sprachlichen Herausforderungen konfrontiert, sie leisten eine sehr wertvolle Arbeit zur sprachlichen Integration», sagt sie. Im Kindergarten von Scuol wird nur «rumantsch» gesprochen, das gilt auch für Kinder mit anderssprachigen Eltern. Inzwischen sind nur noch etwa die Hälfte der Kinder rätoromanischer Muttersprache (siehe Kasten).
Romanisch wird zur gemeinsamen Sprache der Kinder aus deutschen, schweizerdeutschen, portugiesischen oder italienischen Familien. Andere Sprachen bilden die Ausnahme. Wer ältere Geschwister hat, profitiert sprachlich und kommt oftmals mit einem Vorwissen in den Kindergarten, wie zum Beispiel Inas. Ab und zu schicken die Kindergärtnerinnen auch ein romanisches Kind mit in den Förderunterricht, damit die nicht-romanischen Kinder gemeinsam mit ihnen die Sprache anwenden.
Erstaunlich rasche Fortschritte
Gretta Caviezel singt mit den Kindern, sie spielt mit ihnen und lässt erzählen. Oftmals helfen die Kinder sich gegenseitig, wenn ein Wort fehlt. An diesem Morgen hat Gretta Caviezel Kärtchen mit den Bezeichnungen von Körperteilen vorbereitet. Jedes Kind darf abwechselnd eine Karte ziehen und dann sagen, wie das Körperteil auf der Karte auf Romanisch heisst. Bald stellt sich heraus, dass Marie-Antonella in den ersten Kindergartenwochen schon erstaunlich viele romanische Wörter gelernt hat. Bocca. Peis. Bratsch – alles kein Problem für sie. Bei Ellbogen oder Kinn muss auch Inas nachdenken. «Sapperlot», entfährt ihr, als sie vergeblich nach dem Wort für Augenbraue sucht.
Die halbe Stunde ist fast vorbei. Gruppenwechsel. Schon stürmen drei Buben lautstark in die Bibliothek. Zwei sprechen zu Hause Portugiesisch, einer Deutsch. Den portugiesischen Kindern scheint es leichter zu fallen, Romanisch zu lernen, als jenen mit deutschsprachigen Eltern. Logisch, zumal Portugiesisch wie Rätoromanisch neolateinische Sprachen sind. Die Übersetzung von «mão» nach «man» ist naheliegender als von «Hand» nach «man». Allerdings gibt es laut Gretta Caviezel, wie in allen Sprachen, Kinder mit Sprachtalent und jene mit anderen Talenten.
Schimpfwörter lernt man von selbst
Gabriel, Kevin und Louie erzählen gern und viel. Kevin schildert in einem Mischmasch aus Portugiesisch und Romanisch, wie er sich beim Hockey verletzt hat, Louie behauptet, zum «Happy birthday» einen Lamborghini, einen Ferrari und eine Rakete bekommen zu haben. «Drets!» (Echte!). Gabriel beginnt auf Romanisch zu zählen, immer wieder von eins bis acht. Die sieben lässt er jedes mal aus, dafür schmettert er die acht – «ot» – umso begeisterter in den Raum. Es wird auch gehänselt. «Tü cac» , raunt ein Bube dem anderen zu. Romanische Schimpfwörter lernen die Kinder ganz von alleine.
Mit den Buben macht Gretta Caviezel ein Memory, lässt sie die Sujets auf Romanisch sagen. Die Kindergärtner sind bald im Wettbewerbsmodus. Jeder möchte gewinnen. Und schwups, ist auch diese halbe Stunde um.
Jedes Kind ist individuell
Nicht jedes Kind macht gleich schnell Fortschritte. Gewisse Kinder sind sehr motiviert, die Sprache schnell zu lernen, andere haben beim Schuleintritt noch Mühe mit der romanischen Sprache. Gretta Caviezel versucht die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Und sie versucht, die schüchternen Kinder ebenso zu motivieren wie die selbstbewussten. In der nächsten Gruppe ist beispielsweise die kleine Clara. Sie traut sich nur, etwas zur Schnecke Babetta zu sagen, und das auch nur im Flüsterton. Ginevra hingegen spricht inzwischen so gut Romanisch, dass kein Unterschied zu ihrer Freundin mit romanischen Eltern zu hören ist.
«Es ist schön zu sehen, welche Fortschritte die Kinder nach einiger Zeit machen», sagt Gretta Caviezel. Was ihr auffällt ist, dass ein Unterschied zwischen Scuol und Strada besteht, wo sie früher Kindergärtnerin war. In Strada gibt es nur vereinzelt Kinder ohne romanischen Hintergrund und diese müssen sich zwangsläufig anpassen.
Autorin: Fadrina Hofmann
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