Philipp Gurt, Sie sind der erfolgreichste Krimiautor der Schweiz. Nun erscheint mit «Melodie der Einsamkeit» ein philosophischer, tiefgründiger Roman von Ihnen. Was hat es mit diesem Buch auf sich?
Das Thema Einsamkeit geht uns grundsätzlich alle an. Wir leben in einer Zeit, wo «gesehen werden» wichtiger ist als «sehen». Gerade in der Weihnachtszeit sind viele Menschen allein. Auch ich fühle mich ab und zu einsam im Alltag. Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als ich gelesen habe, dass eine Frau monatelang tot in ihrer Wohnung lag und erst jemand nachschaute, als die Rechnungen nicht bezahlt wurden. Da habe ich mich gefragt: Wie kann ein Mensch einfach unbemerkt verschwinden? So ist die Idee zum Roman entstanden.
Das Buch handelt vom Unterengadiner Bestsellerautor Lukas Cadisch, der in Chur lebt und eines Tages für seine Umwelt einfach verschwindet. Was steckt hinter diesem Plot?
Ich habe mich gefragt, was passieren würde, wenn mich niemand mehr sehen und wahrnehmen würde. Wenn ich nicht mehr mit meinen Mitmenschen interagieren könnte. Wenn ich völlig auf mich zurückgeworfen sein würde. Dann habe ich angefangen zu schreiben.
Entstanden ist ein Buch, das in den Besprechungen als feinfühlig und vielschichtig bezeichnet wird. Verletzt Sie die allgemeine Überraschung, dass Philipp Gurt auch tiefgründige Romane schreiben kann?
Nein. Aber mit «Melodie der Einsamkeit» offenbare ich meine Schreibseele. Das bin ich. Das ist Philipp Gurt. Einige meiner Krimis gehen auch in die Tiefe. Diese Passagen sind einfach mit einer Verbrechergeschichte verwoben. In diesem Roman sind diese Geschichten der Protagonisten pur erzählt.
Und doch brauchte es «Melodie der Einsamkeit», damit der Name Philipp Gurt auch in gehobenen Literaturkreisen lobend erwähnt wird...
Sechs von zehn der meistverkauften Bücher in der Schweiz waren im vergangenen Jahr Krimis. Es bekümmert mich, dass Krimis in der Schweizer Literaturszene immer noch als Nischenprodukt behandelt werden. Schon Friedrich Glauser sagte in den Dreissigerjahren: «Es sollte uns nicht beschämen, dass wir Kriminalliteratur produzieren.» Das gilt auch heute noch.
Ihre Krimis verkaufen sich. Verkauft sich auch «Melodie der Einsamkeit»?
Ja, einfach niemals so gut. Aber das wussten wir. Die Startauflage bei einem Krimi liegt bei rund 20 000 Büchern, bei «Melodie der Einsamkeit» waren es 4000. Obwohl ich persönlich finde, es ist mein bisher stärkstes Buch. Es war so schön und intensiv, diese Geschichte zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, in dieser Art zu schreiben, daheim zu sein.
Wie erklären Sie sich die tieferen Verkaufszahlen?
Vielleicht ist das Buch anspruchsvoll und verlangt eine Entscheidung. Einen Krimi kann man als Unterhaltungsliteratur lesen. Mit der Thematik von «Melodie der Einsamkeit» muss man sich auseinandersetzen wollen.
Der Roman ist ein Herzensprojekt von Ihnen. Wollen Sie in Zukunft mehr solcher Bücher schreiben?
Auf jeden Fall. Ich bin bereits an einem nächsten Roman, der in die gleiche Richtung geht. Auch darauf muss am Ende kein Bestseller-Kleber sein. Bei den Krimis stehe ich massiv unter Druck, erfolgreich zu sein. Die letzten neun Bücher waren auf Platz 1 oder 2 der Schweizer Bestsellerliste. Die Erwartungshaltung ist enorm. Bei «Melodie der Einsamkeit» durfte ich viel freier schreiben, weil niemand Platz 1 erwartet. So möchte ich auch in Zukunft schreiben dürfen. Allenfalls werde ich für diese Art von Büchern unter einem Pseudonym schreiben. Philipp Gurt ist bereits in der Krimi-Ecke etabliert. Ich erwäge, meinen romanischen Namen zu verwenden, Filip Tschinta (tschinta ist das romanische Wort für Gurt).
Sie haben erzählt, dass Ihr Taufname in der romanischen Schreibweise geschrieben wurde, also Filip. Ihre Grossmutter stammte aus La Punt. Ihr erster Bucherfolg war mit «Schattenkind», ein tiefgründiger Roman. Es scheint, als möchten Sie in vielerlei Hinsicht zurück zu Ihren Wurzeln?
Ich fand schon immer, ein Buch müsse spannend, aber auch tiefgründig sein. Bei einem Krimi geht es darum, die Fäden zusammenzuhalten, um am Ende auf einen logischen Schluss zu kommen. Man ist stärker in einem Netz gefangen. Bei einem Roman ist man frei, man kann sich von den Emotionen und von seiner Botschaft leiten lassen. Das ist sehr schön beim Schreiben. Das möchte ich weiterhin tun.
Der Protagonist im Buch ist Bestsellerautor und im Unterengadin verwurzelt. Warum im Unterengadin?
Ich habe meine Kindheit im Heim verbracht, aber die Ferien in Scuol bei einer Familie, die eine Schafzucht hatte und er Imker waren. Mich haben diese Lebenswelt, die Berge, das Mineralwasser, das Licht und die Farben tief geprägt. Für mich hat sich das Unterengadin wie eine eigene Welt ausserhalb der Welt angefühlt. Ich hatte das Gefühl, im Engadin kann etwas Positives passieren. Hier ist der Geist freier und es können Kräfte wachsen, wie anderswo nicht.
Der Protagonist Lukas Cadisch lebt ausserhalb seiner Heimat in Chur, kehrt aber ins Engadin zurück, um sich wiederzufinden. Das tut er aber nicht. Wieso?
Das ist der Fluch jener, die hier aufwachsen. Sie meinen, das Bergtal verlassen zu müssen, um sie selbst werden zu können, kehren dann aber oftmals wieder zurück. Lukas Cadisch findet sich im Engadin nicht, aber das hängt mit seiner Familiengeschichte zusammen. Die Natur spielt bei ihm eine grössere Rolle als die Menschen.
Der Protagonist, der innerlich einsam und äusserlich verschwunden ist, sucht ausgerechnet eine einsame Berglandschaft im Oberengadin auf, um mit seiner Situation klarzukommen.
Ja, in der Oberengadiner Bergwelt sucht er einen Ort, wo keine Menschenseele ist. Sobald er nämlich unter Menschen ist, wird er mit seiner ausweglos scheinenden Situation konfrontiert. In der Einsamkeit der Natur kann er alles sein und alles könnte passieren. Aber der Versuch, sich selber auf Reset zu stellen, ist ebenfalls hoffnungslos. Seine Vergangenheit zieht man immer mit, egal, wo man ist.
Dieses Thema beschäftigt viele Menschen. Wie sind die Reaktionen der Leserinnen und Leser auf den Roman?
Extrem gut. Ich habe positive Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern, aber auch von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Das Buch wird als eindringlich bezeichnet, es mache etwas mit einem. Einige haben lange auf so ein Buch von mir gewartet.
Auch Verlag und Buchhandel?
Ich habe schon immer mit meinen Krimis Literatur querfinanziert, die nicht konsumorientiert ist. In welchem Rhythmus ich Romane herausgeben werde, weiss ich noch nicht. Solche Bücher brauchen viel mehr Zeit.
Die Sie eigentlich nicht haben. Ihr Output an Neuerscheinungen ist ja immens. Fünf Bücher waren es allein in diesem Jahr. Werden Sie künftig weniger Krimis schreiben?
Aktuell stehe ich mit zwei Büchern auf der Bestsellerliste. Ich konkurrenziere mich selber. Der Büchermarkt kann nicht alles schlucken, wenn ich noch mehr Bücher publiziere. Also wird es darauf hinauslaufen, dass ich einen Krimi weniger im Jahr schreibe. Ich muss umdenken. Bücher wie «Melodie der Einsamkeit» erreichen ein anderes, kleineres Publikum. Dafür kann man auch in einen anderen Diskurs treten.
Und beweisen, dass Sie weder mithilfe von KI noch mit Ghostwriter schreiben?
KI ist noch nicht so gut wie ich und Ghostwriter auch nicht (lacht). Ich bin in einem sehr engen Austausch mit meiner Lektorin. Die würde beides nicht akzeptieren. Solche Vorwürfe sind Komplimente meiner Neider. Oder die Leute fragen sich einfach: Wie macht der das?
Also: Wie schreibt man so viele Bestseller in einem Jahr?
Ich habe ADHS. Als Kind gab es es diese Diagnose nicht, man versuchte einfach, mich zu verbiegen. Heute hilft mir mein ADHS, mich auf die Arbeit zu fokussieren, meine Geschichten zu bündeln und regelmässig zu publizieren. Ich habe dieses Jahr fünf Bücher publiziert und es war kein Krampf für mich. Die Diagnose ist heute ein Segen und kein Fluch.
Als Kind hat Sie Ihre Andersartigkeit aber sicher auch einsam gemacht?
Ja, natürlich. Und ich fühle mich auch beim Schreiben einsam. Von aussen sieht niemand, was du tust, bis die Geschichte zur Lektorin kommt. Insofern ist «Melodie der Einsamkeit» ein sehr authentisches Buch.
Philipp Gurt: Melodie der Einsamkeit. Atlantis. 2024. 256 Seiten. ISBN: 978–3–7152–5803–4
Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben