Das Besendern von Wildtieren ist eine bewährte Methode, deren Verhalten zu erforschen. Mithilfe von GPS- Halsbändern wird sehr genau deutlich, wann sich die Hirsche wo aufhalten. Diese detaillierten Informationen dienen dem Verständnis der Tierart. Für den Hirsch geben sie darüber hinaus Aufschluss über dessen Lernfähigkeit.
Ein Blick zurück
Die Geschichte der Hirschforschung in der Nationalparkregion reicht weit zurück. Seit der Parkgründung 1914 wird jährlich die Bestandsgrösse im SNP erhoben. Diese zeigt ein exponenzielles Wachstum von ursprünglich 0 auf knapp 2500 Individuen in den 1970er-Jahren. Die jagdliche Regulation war damals unzureichend. Dies hing damit zusammen, dass die Parkhirsche ihre Sommereinstände innerhalb des SNP erst nach der Hochjagd im September verliessen, um in besser geeigneten Gebieten im Haupttal des Engadins und im Münstertal zu überwintern. Die Hirscheinflüsse in diesen Wintereinständen ausserhalb des SNP in Form von Verbiss von Baumtrieben waren entsprechend hoch und dadurch die Waldverjüngung unzureichend. Und trotz der damals gängigen Winterfütterung liessen sich periodische Wintersterben nicht vermeiden.
Bezeichnungen wie das «Hirschproblem» machten die Runde. Über mögliche Lösungen wurde kontrovers diskutiert. Um wirkungsvolle Massnahmen festzulegen, waren die Wissenslücken jedoch zu gross. Individuelle Markierungen von Hirschen sollten neue Erkenntnisse schaffen. Innerhalb von drei Jahren wurden an den damaligen Standorten für die Winterfütterungen knapp 500 Individuen markiert. Aufgrund von Wiederbeobachtungen wurden die Winter- und Sommereinstände der Hirsche bekannt. Zusätzlich liessen sich die gewählten Routen zwischen diesen saisonalen Aufenthaltsgebieten bestimmen.
Als Massnahmen wurde die Einführung der Sonderjagd im November und Dezember beschlossen. Ergänzend dazu errichtete man zusätzliche Jagdschutzgebiete, die Wildasyle. Die erste Massnahme leuchtet ein: Zur Reduktion der Wildeinflüsse sollen die Hirsche dort dezimiert werden, wo sie Schäden in unerwünschtem Ausmass verursachen – im Wintereinstand. Die Vergrösserung der gesamthaft betrachteten Schutzgebietsfläche zur Erhöhung der Jagdstrecke braucht hingegen etwas Erklärung.
Konzept der Landschaft der Angst
In der Wildtierökologie wird das Konzept der «Landschaft der Angst» verwendet, um das räumlich und zeitlich variierende Ausmass der Angst zu beschreiben, welches Beutetiere wahrnehmen. Gemäss dieser Theorie passen auch Hirsche ihre Bewegungen an und wählen ihre Lebensräume in Abhängigkeit von Landschaftsmerkmalen und der Anwesenheit von Feinden. Da für Hirsche relevante natürliche Beutegreifer in den 1970er-Jahren in der Nationalparkregion nicht vorkamen, stellte der Mensch damals den einzigen Feind dar.
Beabsichtigt war also, dem Hirsch mit einem Netzwerk von Wildasylen sichere Lebensräume anzubieten. Damit sollten sich die Hirsche einerseits besser in der Region verteilen. Andererseits ging man davon aus, dass die Hirsche die Schutzzonen auch verlassen oder zwischen ihnen hin und her wechseln und damit für Jäger erreichbar würden.
Dieser Plan ging auf: Die Anzahl Hirsche innerhalb des SNP stabilisierte sich seither auf rund 1550 Individuen im Sommer. Zusätzlich ging der Wildeinfluss in der Nationalparkregion zurück.
Tag-Hirsch und Nacht-Hirsch
Doch nun zur aktuellen Technik: Die modernen GPS-Halsbänder zeichnen die Positionen ihrer Träger stündlich auf. Diese Datenfülle erlaubt das Erstellen von räumlich und zeitlich hochaufgelösten Analysen zur Lebensraumnutzung. Dazu werden digital verfügbare Messgrössen herangezogen wie zum Beispiel der Kronenschlussgrad im Wald für dessen Dichte und damit für seine Schutzwirkung auf Hirsche. Eine weitere Messgrösse wäre die Distanz zu Wegen als potenzielles Mass in Bezug auf die Nähe zum Menschen. Als dritte Messgrösse seien hier die Jagdschutzgebiete genannt. Darin können sich die Hirsche dem Jagddruck entziehen.
Da zu erwarten war, dass sich die Hirsche sowohl im Jahres- als auch im Tagesverlauf unterschiedlich verhalten, haben wir die Analysen pro Monat und nach Tag- und Nachtstunden getrennt durchgeführt. Die Resultate sind deutlich: Tagsüber mieden die Hirsche Lebensräume, in denen Begegnungen mit Menschen wahrscheinlich waren. Das heisst, sie hielten sich in dichten Baumbeständen auf und achteten auf grössere Abstände zu Wegen. Zudem legten sie kürzere Strecken zurück. Im nächtlichen Schutz der Dunkelheit hingegen verhielten sie sich genau umgekehrt: Sie bevorzugten das offene Land, kamen näher an die Wege heran und legten grössere Strecken zurück. Jagdschutzgebiete bevorzugten die Hirsche gemäss ihrem Zweck im Sommer und Herbst. Und letztlich war die Lebensraumwahl während der Hochjagd im September innerhalb von Jagdschutzgebieten weniger spezifisch als ausserhalb. Wir interpretieren diese Resultate so, dass die Jagdschutzgebiete den Hirschen tatsächlich ein vom Menschen weniger beeinflusstes Verhalten erlauben.
Hirsche kennen ihre Lebensräume
Im Vergleich zu den untersuchten Hirschen aus dem Projekt «Ingio via?» fehlte dieses tageszeitliche Muster bei innerhalb des SNP markierten Tieren weitgehend. Diese Parkhirsche zeigten auch am Tag ein vom Menschen weniger beeinflusstes Verhalten und mieden zum Beispiel die Wege auch dann nicht, wenn sie längst aus dem SNP ausgewandert waren. Wir schliessen daraus, dass die Hirsche ihre Lebensräume samt den vom Menschen ausgehenden Gefahren genau einschätzen können.
Diese Ergebnisse deuten weiter darauf hin, dass das Netzwerk von kleinräumigen Jagdschutzgebieten eine natürlichere Lebensraumwahl der Hirsche unterstützt, insbesondere, wenn diese den Menschen wie im SNP zusätzlich einschränken.
Thomas Rempfler, SNP
Dieser Beitrag ist erstmals im Gästemagazin «Allegra» veröffentlicht worden.
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