Majestätisch thront er über dem Unterengadin und insbesondere über Scuol. Der Piz Pisoc gehört zur Sesvenna-Gruppe und ist weitaus weniger begangen als andere Gipfel in der Region. Das auch wegen seiner anspruchsvollen Routen und des brüchigen Gesteins.
In der Chronik von Tarasp, die der Ftaner Historiker Paul Grimm Ende 2024 veröffentlichte, wird die Entdeckung des Bergsteigens in der Region beschrieben: «Um Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Bergsteigen auch im Unterengadin entdeckt.» Der bekannte Topograf Johann Coaz war damals eine zentrale Figur, der neben der Kartierung der Gegend auch zahlreiche Erstbesteigungen durchführte. Darunter den Piz Lischana und den Piz San Jon.
Umstrittene Erstbesteigung
Der Piz Pisoc galt lange als unbezwingbar. Erst am 28. Mai 1865, also vor 160 Jahren, soll laut dem Fögl d’Engiadina die erste Besteigung gelungen sein. Alexander Flury aus Pontresina und Pankratius Marugg aus Scuol machten sich demnach frühmorgens auf den Weg und erreichten gegen neun Uhr den Gipfel. Ihre Besteigung wurde aus dem Tal genau beobachtet.
Doch Zweifel an dieser Pioniertat liessen nicht lange auf sich warten. Der Kurarzt und SAC-Mitglied Albert Arquint konnte 1878 keine Spuren dieser Tour finden. Auf dem Gipfel fanden sich nur Hinweise auf spätere Besteigungen, nicht jedoch von 1865, argumentierte Arquint.
Für die Tarasper Bevölkerung war es ein Affront, dass ihr Hausberg nicht von einem Einheimischen, sondern von einem Scuoler und einem Oberengadiner erstmals bezwungen wurde. Warum Marugg sich mit Flury zusammentat, bleibt bis heute unklar. Klar ist aber: Flury war ein erfahrener Bergsteiger und Pionier – unter anderem Erstbesteiger des Piz Palü sowie Gründer des ersten Fotogeschäfts der Schweiz in Pontresina, das 2022 seinen Geschäftsbetrieb aufgab.
Anspruchsvolles Terrain
Noch heute ist der Piz Pisoc kein einfaches Ziel. Der Aufstieg verlangt neben guter Kondition auch alpine Erfahrung, Trittsicherheit und bei gewissen Verhältnissen den Einsatz von Steigeisen und Pickel. Besonders gefährlich ist das «Couloir», die schmale Rinne beim Aufstieg, das stark steinschlaggefährdet sein kann. Ideal ist eine Besteigung im späten Frühjahr oder Frühsommer, wenn dort noch genügend tragender Schnee liegt.
Eine weitere Erstbesteigung
An einem klaren Julitag 2024 bestiegen David Brodbeck, langjähriger Pädagoge an der Bergschule Avrona in Tarasp, gemeinsam mit seinen Töchtern Sophie und Viola den Gipfel. Für ihn war es bereits die 42. Besteigung. «Und es ist jedes Mal anders», sagt er mit einem Lächeln. Für die 12-jährige Viola war es hingegen die erste. Für sie war es ein unvergessliches Erlebnis. Brodbeck betont, wie sehr sich das Bergsteigen seit der Zeit der Erstbesteiger verändert hat: «Heute können wir dank präziser Karten, zuverlässiger Wettervorhersagen und moderner Ausrüstung solche Touren gut planen und sicher durchführen.» Wenn er jedoch an die Anfänge des Alpinismus denkt, erfüllt ihn tiefer Respekt: «Diese Männer haben ihr Leben riskiert – nicht aus Ruhmsucht, sondern aus echter Leidenschaft für die Berge.»
Rekorde und Jungalpinisten
Ein Name sticht im Gipfelbuch des Piz Pisoc besonders hervor: Lukas Regli. Der Tarasper stand mehr als 150 Mal auf dem höchsten Punkt des Nationalparks, was eine bemerkenswerte Leistung und Zeichen seiner tiefen Verbundenheit mit «seinem» Berg ist. Auch der jüngste dokumentierte Besteiger verdient Anerkennung: Der damals siebenjährige Maurin Grass erreichte am 1. August 2022 gemeinsam mit seinem Vater Schimun den Gipfel. Eine symbolträchtige Tour am Schweizer Nationalfeiertag und ein Zeichen dafür, dass die Faszination für den Piz Pisoc auch die jüngste Generation nicht loslässt.
Autor: Mayk Wendt
Autor: Mayk Wendt
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