Klassische Klänge hallten durch das Auditorium des Schweizerischen Natio­nalparks in Zernez und die Frage, was diese mit einem Vortrag mit dem Titel «Die Elster – intelligent und erfolgreich» zu tun haben, hing im Raum. Es handelte sich um die Ouvertüre von Rossinis Oper «Die diebische Elster». In dieser Oper wird ein Dienstmädchen zum Tode verurteilt, weil es einen silbernen Löffel gestohlen haben soll. Über Zufälle wird dieser dann im Nest einer Elster wiedergefunden und das Mädchen rehabilitiert. 

Gut für sie, schlecht für die Elster. Denn spätestens seitdem gilt diese als diebisch. Sie sammelt ein, was glänzt und glitzert, und schmückt damit ihr Nest. Dabei handelt es sich um einen hartnäckigen Mythos, wie Ueli Rehsteiner erläutert, denn bei der Untersu­chung von Hunderten von Elstern­nestern in Europa wurde keinerlei «Diebesgut» wie Silber- oder Goldschmuck gefunden. 

Anpassungsfähige Kulturfolgerin
Diebisch ist die Elster also nicht, darf aber als neugierig, lernfähig und intelligent bezeichnet werden. Als Vertreterin der Familie der Rabenvögel erstaunen diese Eigenschaften nicht. Elstern gehören übrigens zu den Singvögeln, was man aus ihrem lauten, schäckernden Ruf – wie das Schütteln einer Zündholzschachtel – nicht unbedingt schliessen würde.

Der Grossteil der Elstern lebt heute im Siedlungsgebiet. Da die Tiere ihre Nahrung zu einem grossen Teil am Boden suchen und dort gerne Insektenlarven und Würmer erbeuten, profitieren sie von den zahlreichen kurzge­schnit­tenen Rasen. Zudem ist dort, wo der Mensch lebt, grundsätzlich viel Nahrung vorhanden. Denn die Elster ist ein opportunistischer Allesfresser, sie frisst das, was verfügbar ist: Insekten, Würmer, Schnecken, Früchte, Aas, aber auch Pommes, Hamburger oder Brot. Im Winter ernährt sie sich primär pflanzlich und freut sich dann auch über Futterknödel, die wir Menschen für Meisen aufhängen. Die Elster profi­tiert von unseren Aktivitäten und Abfällen und ist damit eine typische und erfolgreiche Kulturfolgerin. 

Seit 1990 hat sich ihr Brutbestand in der Schweiz verdreifacht. Dies liegt aber nicht nur an der Zunahme des Siedlungsgebiets, denn dieses hat weniger stark zugenommen. Auch im Engadin hat sich die Elster stark verbreitet.

Selbstregulierende Population
In der Schweiz ist die Elster weit verbreitet und mit 35 000 bis 40 000 Brutpaa­ren nicht bedroht. Interessanterweise ist der Gesamtbestand viel grösser, denn bis zur Hälfte besteht er aus Trupps von nichtbrütenden Vögeln. Daher ist auch der Abschuss von Elstern vergebliche Müh: Wird ein Platz in einem Brutrevier frei, rückt einfach ein Nichtbrüter nach. Und wird ein Nichtbrüter erlegt, kann dies sogar kontraproduktiv sein. Denn die Nichtbrüter stören die brütenden Tiere und schmälern so deren Fortpflanzungserfolg. Die Population reguliert sich also zu einem gewissen Grad selbst.

Elstern brüten ab April. Die grossen, runden Nester wirken von aussen eher unordentlich. Die herausstehenden Zweige sind jedoch ein guter Schutz gegen Feinde. Und innendrin befindet sich ein ordentliches, aus Erde gestampftes und mit feinem Material gepolstertes Nest, in welches das Weibchen fünf bis sieben Eier legt. Nur zehn bis 20 Prozent dieser Eier entwickeln sich zu Vögeln, die ausschlüpfen, flügge werden und das erste Jahr überleben. Die Sterblichkeit im ersten Jahr ist also sehr hoch. 

Der höchstgelegene Brutplatz, der im Engadin entdeckt wurde, befand sich übrigens bei der Bergstation der Signal­bahn in St. Moritz und erstaunte mit einer Höhe von 2140 Metern über Meer. 

«Elstern schaden den Singvögeln»
Auch diesen schlechten Ruf haben die schönen und auffällig gefärbten Vögel. Und sollte man effektiv mal einen Jungvogel im Schnabel einer Elster sehen, ist dieses Urteil rasch gefällt. Doch Ueli Rehsteiner stellte offene Fragen in den Raum: War der Jungvogel schon vorher tot? Hätte er als Nestling überlebt und sich selber einmal fortge­pflanzt? Hat sein Tod die Überlebenschancen seiner Geschwister erhöht? Das alles wissen wir nicht. 

Zahlreiche Studien zeigen, dass Elstern und andere Krähenvögel Bruten von Singvögeln erbeuten und damit deren individuellen Fortpflanzungserfolg beeinflussen könnten. «Die zentrale Frage lautet jedoch, wie sich der Verlust von Eiern und Jungvögeln auf die gesamte Population auswirkt. Aus Einzelbeobachtungen sind darauf kaum Antworten möglich.» So wurden negative Einflüsse auf die Bestandsentwicklung anderer Singvogelarten bisher kaum gefunden. 

Was lehrt uns das Beispiel der Elster? Die Zusammenhänge in der Natur sind meist sehr viel komplexer als die einfa­chen, linearen Schlussfolgerungen, die wir gerne ziehen. Ueli Rehsteiner ermutigte daher auch sein Publikum, die Perspektive zu wechseln und sich zu fragen, welche weiteren Szenarien und Erklärungen es gibt. «Die Elster erkennt sich im Spiegel. Mir gefällt, dass sie auch uns immer wieder den Spiegel vorhält.» 
Autorin: Franziska Heinrich/SNP