Nass und kühl ist es an diesem Samstagmorgen. Dennoch stehen die Familien von Nic und Tinetta Thanei und der Vater von Gian Caviezel am Dorfrand von Lavin, um zu warten, bis die Rennteilnehmer und die Rennteilnehmerin vorbeifahren. Reto Thanei ist mit einem Korb gekommen. «Ich werde ständig gefragt, ob ich ‹Pilzen gehe›», sagt er schmunzelnd. Aber nein, im Korb sind drei Trinkflaschen mit Süssgetränken, Bananen, ein Veloschlauch, CO2-Patronen und ein Taschenmesser, falls ein Pneu geflickt werden müsste. Der Korb zieht den knapp zweijährigen Enkel magisch an, doch Reto Thanei weist ihn sofort darauf hin, dass die Sachen für Mama und Papa seien, die gerade mit dem Bike unterwegs seien.
Reto Thanei ist nicht alleine mit dem Enkel da, auch die anderen Grosseltern, Flurina und Reto Strimer, sind vor Ort. Reto Strimer hat sogar das Fernglas dabei, um früh erkennen zu können, wann seine Tochter Tinetta Thanei und ihre Teamkollegen auftauchen. Erich Caviezel ist derweil damit beschäftigt, die Flasche für seinen Sohn Gian zu schütteln, damit die Kohlensäure aus dem Getränk entweicht.
Eine Frage der Absprache
«Es ist gar nicht so einfach, die Flasche zu reichen, wenn die Athleten so schnell vorbeifahren, vor allem wenn sie in einer Gruppe sind», sagt Erich Caviezel. Flurina Strimer bemerkt, dass es beim Bike-Marathon aber noch einfacher sei, als beim Engadin Skimarathon. Im Vorfeld spreche man sich ab, wo und auf welcher Seite die Helfenden stehen, und dann funktioniere es in der Regel gut.
«Ich komme gerne, um zuzuschauen, bin aber froh, nicht selber teilnehmen zu müssen», sagt Reto Thanei. Er findet es bewundernswert, dass sich «die Jungen» nicht von Nässe und Kälte beeinflussen lassen und dennoch frohen Mutes an den Start gehen. Ursina und Andri Caviezel sind das erste Mal als Support dabei, allerdings vor allem, um Patenkind Tinetta anzufeuern.
Disqualifiziert, weil zu langsam
Plötzlich tauchen die ersten Fahrer auf. Allerdings stellt sich bald heraus, dass diese erste Gruppe bereits aus dem Rennen ausgeschieden ist. «Disqualifiziert, weil wir zu langsam waren», meint ein vorbeifahrender Deutschschweizer mit einem schiefen Grinsen. Kurze Zeit später fährt aber der Europameister Andreas Seewald vorbei, dicht gefolgt vom Vizeschweizermeister Hansueli Stauffer. Und dann geht es Schlag auf Schlag.
Die Helfenden versuchen, den Überblick zu behalten. «Welche Farbe ist für welche Strecke?», fragt jemand. Gemeint ist die Farbe auf den Nummernschildern mit den Vornamen der Teilnehmenden.
«Die Batterie ist leer»
Der Regen hat aufgehört. Die Stimmung ist gut am Streckenrand bei Lavin. Es wird geplaudert, gelacht, Hopphopp und Heja gerufen. Erinnerungen an Ereignisse der Vorjahre werden ausgetauscht. Immer mehr Helfer und andere Familien treffen ein, um ihre Athletinnen und Athleten zu unterstützen. Der Erste, der vom offiziellen Nationalpark Bike-Marathon Team zu sehen ist, ist Michael Müller. Er rennt neben seinem Bike her. «Die Batterie ist leer», ruft er auf die Frage, ob er Hilfe benötige. Dann schwingt er sich wieder in den Sattel und fährt weiter. Ins Ziel wird er wenig später als 19. in der Königsdisziplin einfahren. Nach genau fünf Stunden und 110 Kilometern.
Plötzlich ruft Späher Reto Strimer: «Gian kommt!» Dessen Vater, der mit Bekannten plaudert, hat gerade noch Zeit, die Flasche in Richtung des herausgestreckten Arms zu reichen. Wenig später fährt Nic Thanei vorbei, und sein Vater reicht ihm die Flasche und rennt mit der Banane sogar noch ein Stück mit. Nach wenigen Sekunden ist sein Auftrag erfüllt. Die angebrochene Banane darf er selber aufessen.
Gian Caviezel fährt auf den hervorragenden 12. Rang auf der mittleren Alternativstrecke von 78 Kilometern, Nic Thanei wird auf der gleichen Strecke 18. und Teamkollege Damian Schudel fährt auf Rang 25.
Es reicht für einen Podestplatz
Flurina Strimer informiert die Familienmitglieder laufend, was ihr die elektronischen Live-Daten auf dem Smartphone verraten. «Tinetta ist jetzt in S-chanf», sagt sie. Sie liege nur Sekunden hinter der Italienerin Manuela Pedrana, die an der Spitze fährt. «Ah, Tinetta beisst sich schon durch», meint Andri Caviezel gleichmütig. Auch Flurina Strimer kennt den eisernen Willen der Tochter und ist besorgt, dass diese von Ftan abwärts «alles loslassen» werde. «Ich bin jedes Mal wie auf Nadeln, bis sie im Ziel ist.»
Als Tinetta Thanei bei ihrer Familie ankommt, scheint sie ausgepowert zu sein. Die Kälte macht ihr zu schaffen, da hilft auch das Süssgetränk nicht, welches ihr gereicht wird. Noch ist sie an zweiter Stelle, später wird sie auf den dritten Rang zurückfallen. Es reicht immerhin für den Podestplatz auf der mittleren Alternativstrecke von 78 Kilometer.
Zufrieden trotz Schlamm und Kälte
Im Zielgelände in Gurlaina bei Scuol herrscht reges Treiben. Schlammverspritzte Athletinnen und Athleten fahren ins Ziel, begleitet von den Informationen des Speakers und vom Applaus des zahlreich erschienenen Publikums. Gian Caviezel und Nic Thanei sind soeben angekommen, klopfen sich gegenseitig anerkennend auf die Schulter, wischen sich den Dreck aus dem Gesicht. Beim Zaun steht Jolanda Thanei, die ihren Sohn gratulieren möchte.
«Ich bin sehr zufrieden», sagt dieser auf die Frage einer Journalistin. Hart sei es jedes Jahr, dieses Mal sei der Trail von Zuoz nach S-chanf wegen des Schlamms besonders herausfordernd gewesen. «Zum Glück hat es aufgehört zu regnen.» Dann darf er seine Frau umarmen, die inzwischen ebenfalls ins Ziel gekommen ist. «Es ist anfangs trotz der Kälte im hohen Tempo gut gegangen, aber ab Lavin habe ich gelitten», berichtet sie. Mit dem Podestplatz sei sie daher sehr zufrieden. «Es ist ein Privileg, diesen Bike-Marathon fahren zu können», so ihr Fazit.
Ein Privileg ist es für Athletinnen und Athleten auch, Familien im Rücken zu haben, die ein so grosser Support sind.
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