Wer Blockgletscher nicht kennt hält sie oft für Geröllhalden. Aus der richtigen Perspektive ist jedoch deutlich sichtbar, dass bei diesen hangabwärts kriechenden Strukturen nicht der Zufall, sondern die Schwerkraft am Werk ist. Und hat man sie einmal gesehen, verkennt man sie nie mehr. Am 3. September liessen Stefanie Gubler, Leiterin der Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks (SNP), und Samuel Wiesmann, Leiter Geoinformation des Schweizerischen Nationalparks, die spannende Geschichte der Blockgletscher und ihrer Erforschung lebendig werden.
Was genau sind Blockgletscher ?
Charakteristisch für Blockgletscher sind eine steile Front an deren Zunge und Wülste, die sich vor allem im untersten Teil durch Staucheffekte bilden, wenn der Blockgletscher weiter oben schneller kriecht. Das «Kriechen» kommt zustande, da die Hohlräume zwischen den Gesteinsmassen mit plastischem Eis gefüllt sind. «Blockgletscher sind ein sichtbares Phänomen des Permafrosts», erläutert Stefanie Gubler. Permafrostgebiete, die gemäss Definition über eine Zeit von mehr als zwei Jahren eine Temperatur von maximal 0 Grad Celsius aufweisen müssen, kommen in den Alpen häufig in kalten, niederschlagsarmen Gebieten vor. Für die Entstehung von Blockgletschern ist zudem viel loses Gesteinsmaterial notwendig. Diese Voraussetzungen sind im Engadin optimal gegeben – entsprechend ist die Landschaft in höheren Lagen stark von diesen geomorphologischen Formen geprägt.
Blockgletscher und Klimawandel?
In den letzten 130 Jahren ist die Durchschnittstemperatur in der Schweiz um 2,9 Grad Celsius gestiegen und alle Eisgletscher im SNP sind verschwunden. «Blockgletscher reagieren anders», führte Stefanie Gubler aus. «Ein Stein, der durch den Blockgletscher nach unten transportiert wurde, kann weder schmelzen noch wieder den Berg hochgehen. Blockgletscher ziehen sich im Gegensatz zu Eisgletschern also nicht zurück.» Die Frage, wie Blockgletscher auf den Klimawandel reagieren, ist eng verknüpft mit der Frage, wie sich Permafrostgebiete verändern. Seit 25 Jahren wird dies im schweizweiten Monitoring Permos an 27 Standorten untersucht. Anhand von Permafrost-Bohrlöchern – das erste wurde im Jahr 1987 auf dem Blockgletscher am Corvatsch im Oberengadin gebohrt – werden die Bodentemperaturen in Permafrostgebieten gemessen. So konnte aufgezeigt werden, dass die Temperatur in 10 m Tiefe in den untersuchten Gebieten in den letzten 10 Jahren um teilweise über 0,8 Grad Celsius zugenommen hat. Dies wirkt sich auf die physikalischen Eigenschaften des Eises sowie den Eis- und Wassergehalt der Blockgletscher aus – und damit auf ihre Kriechgeschwindigkeit. Seit Beginn dieser Messreihen zeigen die im Rahmen von Permos untersuchten Blockgletscher eine deutliche Beschleunigung. Es gibt aber auch Blockgletscher, die diese Beschleunigungsphase bereits hinter sich haben und sich nun verlangsamen – bis hin zum Stillstand. Dies zeigen auch langfristige Untersuchungen aus dem Schweizerischen Nationalpark.
Die lange Reise eines Steins
Einen Sonderfall nannte Stefanie Gubler die Blockgletscher im SNP, weil ihre Geschichte aufgrund von weltweit einzigartigen Datenreihen besonders gut dokumentiert ist. So wurde das Phänomen der Blockgletscher im SNP 1917 zum ersten Mal in der Schweiz dokumentiert und mit ihrer Vermessung – der ersten weltweit – begonnen. Dazu haben Émile Chaix und sein Sohn André Einzelblöcke auf dem Blockgletscher markiert und anhand unbeweglicher Fixpunkte ihre Verschiebung zwischen den Jahren 1918 und 1942 festgehalten. Im Jahr 2006 nahm der SNP die Vermessung der Blockgletscher wieder auf. «Das Ziel war, die Daten von damals und heute zu vergleichen und die Lücken dazwischen schliessen zu können», erläuterte Samuel Wiesmann. Doch wie ist das möglich? Anhand der früheren Daten und Fixpunkte wurde abgeschätzt, wie weit die 1918 markierten Steine gewandert waren. Die weitere Reise der wiedergefundenen Steine von 2006 bis heute liess sich mit satellitengestützten Messungen verfolgen. Um die Lücke in den Daten von 1942 bis 2006 zu schliessen, kamen Luftbilder von Swisstopo zum Einsatz. Auf diesen suchte Alberto Muñoz-Torrero im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Genf gut wiedererkennbare Punkte auf den Blockgletschern – insgesamt 1200 charakteristisch geformte Steine. Anhand von fixen Referenzpunkten konnten die zehn Luftbilder mit photogrammetrischen Methoden verglichen und die Reisgeschwindigkeit der Steine rückwirkend bestimmt werden. «Der Aufwand war sehr gross», erläutert Samuel Wiesmann. Die nun einmaligen Datenreihen lassen Aussagen zu, wie sich die Geschwindigkeit der Blockgletscher im SNP und auch ihre Mächtigkeit in den letzten über 100 Jahren verändert haben. Der Trend ist deutlich: alle vier untersuchten Blockgletscher im SNP haben sich verlangsamt – der Blockgletscher Val Sassa von über einem Meter auf wenige Dezimeter pro Jahr.
Ein geologisches Welterbe
Die Blockgletscher im Engadin wurden im Oktober 2022 als eine von 100 ersten geologischen Welterbestätten ausgezeichnet. Isabelle Gärtner-Roer, Gruppenleiterin am geographischen Institut der Universität Zürich, erläuterte zum Schluss, wie es dazu kam und übergab die Original-Auszeichnung an Ruedi Haller, Direktor des SNP. «Ich freue mich sehr darüber. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig die Langzeitforschung des SNP ist.» Nebst Schutz des Gebiets vor menschlichen Einflüssen und Information der Öffentlichkeit ist die Forschung eines der drei Ziele, die der SNP seit seiner Grünung vor 111 Jahren verfolgt.
Autorin: Franziska Heinrich, SNP




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