Flurina Graf, warum sind Bräuche und Traditionen wichtig für eine Gesellschaft?
Sie fördern den Zusammenhalt. Man fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, wenn man an einer Tradition teilnimmt. Man gehört dazu. Wichtig ist auch das Element des Wiederkehrenden. Bräuche und Traditionen schaffen eine Struktur im Jahresverlauf. Die Kontinuität ist gerade in der heutigen Zeit, in der sich vieles verändert, wichtig für die Menschen.
Bräuche sind also ein sozialer Kitt?
Genau. Bräuche sind vor allem für die Teilnehmenden wichtig. Wer schon als Kind mitgemacht hat, vertritt eine Tradition anders als jene, die neu zugezogen sind. Interessant ist, dass die Kinder der Zugezogenen dann selber mitmachen und entsprechend einen anderen Bezug zur Tradition erhalten als die Eltern. Das sieht man immer wieder bei der Diskussion, inwiefern man Traditionen an neue Gegebenheiten anpassen soll.
Eine solche Diskussion läuft schon seit Jahren beim Chalandamarz in Ftan, bei dem unter anderem die Mädchen mit Schweineblasen geschlagen werden. Muss man Traditionen anpassen?
Ja, ich denke, man muss sie den heutigen Gegebenheiten anpassen. In Chur gibt es zum Beispiel die Maiensässfahrt. Alle Volksschülerinnen und Volksschüler wandern zu einem Maiensäss. Rein physisch ist es für Kinder heutzutage zum Teil schwierig, so weit zu laufen. Der Alltag der Eltern ist auch ein anderer und logistisch ist es für sie schwierig, wenn der reguläre Stundenplan nicht eingehalten wird. Es ist wichtig, den Diskurs in der Gesellschaft zu führen, inwiefern man Traditionen anpasst. Es heisst ja auch nicht von ungefähr «lebendige Traditionen».
Sie sprechen den Begriff «lebendige Traditionen» an, die als immaterielles Kulturgut der Unesco gelten. Die Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz zählt heute 228.
Richtig. Erstellt wurde diese Liste vom Bundesamt für Kultur und den Kantonen. Traditionen wurden nicht irgendwann einmal erfunden und dann starr erhalten. So, wie alles andere sich verändert, verändern sich auch die Traditionen. Die Frage lautet: Was ist die Essenz, was soll noch erhalten werden, damit man weiterhin von Tradition sprechen zu kann.
Werden Traditionen geändert, wird die Debatte darüber meist hochemotional. Ein Beispiel dafür ist die Teilnahme von Mädchen am Chalandamarz in Zuoz vor bald drei Jahren. Warum erhitzen solche Veränderungen die Gemüter?
Das Verharren in der festen Struktur gibt das Gefühl von Sicherheit, man möchte die Kontrolle nicht verlieren. Es gab eine Diskussion zu diesem Thema mit den Schülerinnen und Schülern vom Lyceum Alpinum Zuoz. Auch dort gab es konservative, bewahrende Stimmen. Auf der anderen Seite ist mir ist die Aussage einer Schülerin geblieben, die gesagt hat: Traditionen haben nur eine Bedeutung, wenn man selber daran teilnehmen darf. Wird man ausgeschlossen, hat man keine Erinnerungen daran und fühlt sich auch nicht zugehörig. Sie hat es auf den Punkt gebracht.
Traditionen und Bräuche schaffen also nicht nur Gemeinschaft, sondern können auch ausschliessen?
Ja, so sehr Traditionen verbinden, so sehr können sie auch ausschliessen. Wer nicht mitmachen darf, fühlt sich nicht als Teil der Gemeinschaft. Wichtig ist: Man muss die Traditionen denjenigen, die neu dazukommen, erklären. Vielleicht muss man auch überlegen, wie verpflichtend die Teilnahme an einer Tradition für Kinder sein soll. Je besser sie die Tradition verstehen, desto leichter fällt es ihnen auch, sie zu respektieren und gegebenenfalls daran teilzunehmen
Aber Chalandamarz oder Alpabzüge sind Publikumsmagnete und ziehen auch sehr viele Gäste an. Menschen, die keinen Bezug zur Tradition oder zur Landwirtschaft haben, sind begeistert von solchen Traditionen. Kann man diese Phänomen mit der Sehnsucht nach der heilen Welt erklären?
Das ist eine Erklärung, ja. Und bei den Gästen ist es vielleicht die Suche nach dem Anderen, der «Exotik», dem sogenannt «Authentischen». Der Begriff der Authentizität ist aber problematisch, er impliziert die Vorstellung von etwas Statischem. Doch was ist echt und was eine Inszenierung? Alpabzug ist eine Inszenierung, aber in gewissen Orten wird er zu einer touristischen Inszenierung. Tourismus braucht seit jeher die Bilder in der Kommunikation, die Emotionen wecken. Dafür bieten sich Bräuche an. Die Region muss sich aber fragen: Welche Art von Tourismus wollen wir? Wie weit will man bei der Vermarktung von Traditionen gehen?
Inwiefern sind Bräuche wichtig für die Identität einer Gemeinschaft?
Für eine Gemeinschaft sind Traditionen und Bräuche wichtig. Das zeigt sich auch in den intensiven Diskussionen, wie beim Chalandamarz in Zuoz. Bräuche geben einem Ort ein Gesicht. Sie sind ein Bestandteil von einer Art von lokaler oder regionaler Identität. Gerade darum müssen sich Traditionen wandeln.
Können Sie diese Aussage erläutern?
Die Gesellschaft wandelt sich. Die Bevölkerung verändert sich. Wir haben Zuzügerinnen und Zuzüger. Die Gemeinschaft wird viel diverser. Dementsprechend werden sich Traditionen ändern. An Weihnachten gehen wir auch nicht mehr unbedingt in die Kirche.
Werden Traditionen nicht gepflegt, können sie aber auch verschwinden?
Ja, Traditionen verschwinden, es entstehen aber auch wieder neue Traditionen. Ein Beispiel dafür ist die Flachsbrächete in der Val Müstair. Auch die jüngere Generation kann neue Traditionen schaffen.
Oder fremde Traditionen übernehmen, wie Halloween zeigt ...
Ja, das ist eine importierte Tradition. Aber es gibt auch neue Traditionen, zum Beispiel ein jährlich wiederkehrender Musikanlass.
Flurina Graf ist Ethnologin und Senior Researcher beim Institut für Kulturforschung Graubünden.






Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben