Lässig gekleidet reckt Habtom Tekie die rechte Faust zum coronakonformen Gruss. Mit der linken Hand fasst er sich höflich lächelnd an den schütteren Bart und richtet kurz seine Rastas. Er kommt eben von der Berufsschule, spricht überraschend gut Schweizerdeutsch und trifft sich gleich am Sitz des regionalen Sozialdienstes mit Sozialarbeiterin Giulia Dietrich.
Seit fünf Jahren ist Tekie im Besitz des Ausweises F und gilt damit in der Fachsprache des Staatssekretariats für Migration (SEM) als «vorläufig aufgenommener Flüchtling». Über seine Kindheit in Eritrea, dem Sechs-Millionen-Staat im Nordosten Afrikas, der 2019 von der amerikanischen NGO «Freedom House» als «hermetischer Polizeistaat» umschrieben wurde, will oder kann er nicht sprechen. Ebenso wenig über die damaligen Beweggründe, Familie und Heimat verlassen zu haben und auch nicht über seine Flucht nach Europa. Wir akzeptieren das so.

Warten, warten, warten ...
Im Juli 2013 reist er als 17-Jähriger über Chiasso in die Schweiz ein. Nach zwei Wochen im Tessiner Transitzentrum kommt Habtom Tekie nach Chur, ein Jahr später ins Asylheim nach Cazis, wo er weitere sieben oder acht Monate mit Nichtstun verbringt. «Es gab überhaupt nichts zu tun», erinnert er sich, «einfach nur warten, warten, warten ...» Warten auf den Erstentscheid, darauf, dass er weiterhin in der Schweiz bleiben darf und hier aufgenommen wird.
Im Februar 2015 dann die gute Nachricht aus Bern: Tekie erhält den Ausweis F und muss sich nun auf die Suche nach einer Wohnung machen. «Das war trotz Hilfe sehr schwierig, weil ich keine Arbeit hatte und natürlich auch kein Geld.» Giulia Dietrich nickt und ergänzt: «Schwierig ist dieser Schritt jeweils nicht nur für die Asylsuchenden, sondern auch für die, die helfen.»
Es folgen Jugendberatungen durch die Sozialdienste, ein Integrationsprogramm der Fachstelle Integration, Sprachprüfung und der Umzug nach Schiers. «Dank dem Ausweis F konnte ich von einem Brückenangebot profitieren und dort das 10. Schuljahr mit Schwergewicht Sprache und Integration besuchen», so Tekie.

Schreiner im dritten Anlauf
Zurück in Chur, macht er sich auf, eine passende berufliche Ausbildung zu finden. Schnuppert zuerst als Mauer, dann als Zimmermann und findet in beiden Branchen keine Lehrstelle, dafür Gefallen am Werkstoff Holz. Sein damaliger Lehrer vermittelt ihm eine dritte Schnupperwoche, und tatsächlich bekommt Tekie im dritten Anlauf in der Lehrwerkstatt für Schreiner in Samedan seine Chance. 2017 beginnt er dort die zweijährige, berufliche Grundbildung mit Berufsattest EBA und schliesst diese erfolgreich ab.
Anstatt sich aber damit zufriedenzugeben, packt ihn der Ehrgeiz. Habtom Tekie bleibt in der Lehrwerkstatt und beginnt noch im EBA-Abschlussjahr die ordentliche, vierjährige Schreinerlehre EFZ. Angerechnet wird ihm die absolvierte Grundausbildung nicht. Tekies Lehrmeister, Lehrwerkstatt-Geschäftsführer Remo Püntener rechnet ihm dies hoch an: «Habtom war mit dem Erreichten nicht zufrieden und wollte mehr. Sechs Jahre Ausbildung bei bescheidenem Einkommen, das ist ein Kraftakt.» Seinen Schützling charakterisiert er als einen guten, offenen Typ, motiviert und im Betrieb sehr gut integriert. «Er ist im positiven Sinn manchmal ein Schlitzohr, ist sich aber für nichts zu schade, steckt sich Ziele und wird diese auch erreichen, davon bin ich überzeugt», so Püntener, «er erarbeitet sich die Chance, die er hier bekommt».

«Ich bin hier am falschen Platz»
Habtom Tekie hatte aber anfänglich so seine Bedenken: «Zu Beginn der Lehre sah ich meine jüngeren Kollegen, welche schon von der Schule her Erfahrung mit Holz hatten. Da habe ich oft gedacht, ich bin hier am falschen Platz.» Er lernt aber schnell, dass dem nicht so ist und auch, «dass man hier im Winter trotz Minustemperaturen auch draussen arbeiten kann.»
Mittlerweile führt er sich wohl in seinem neuen Umfeld, in seinem Beruf. Dies nicht zuletzt dank der grossen Unterstützung durch den Lehrbetrieb, dem regionalen Sozialdienst, der etwas im Hintergrund agierend in Fragen rund um die Finanzverwaltung oder in administrativen Belangen hilft und als Anlauf- und Kontaktstelle dient. Oder auch dank Tekies Job-Coach von der Fachstelle Integration beim kantonalen Amt für Migration. Viel profitieren kann Habtom Tekie indes auch von der pensionierten Sekundarlehrerin Meta Battaglia aus Samedan. Sie steht ihm bei Bedarf – wohlbemerkt auf gänzlich freiwilliger Basis – als Hausaufgabenhilfe zur Seite.
Habtom Tekie lebt seit drei Jahren im Lehrlingshaus in Samedan, kann aber mit seinem Lehrlingslohn und der Ende Jahr auslaufenden öffentlichen Finanzunterstützung keine grossen Sprünge machen. Er gibt sich bescheiden: «Ich gehe manchmal auf den Sportplatz, spiele etwas Fussball, gehe spazieren oder lerne für die Schule.» Eines seiner zwölf Geschwister lebt ebenfalls in Graubünden, in Malix. «Manchmal kommuniziere ich mit meinem Bruder via Facebook oder Skype. Aber seit ich kein Büga mehr habe, kann ich ihn leider nur noch selten besuchen.»
Damit Tekie auch seinen zweiten Abschluss schaffen, sich danach berufliche Erfahrung aufbauen und vielleicht weiterbilden oder spezialisieren kann, ist der Wechsel vom F- zum B-Ausweis, also zum anerkannten Flüchtling unabdingbar. «Wenn er seinen Weg so weitergeht,» zeigt sich Sozialarbeiterin Giulia Dietrich zuversichtlich, «dann wird es bloss eine Frage der Zeit sein, bis er ein entsprechendes Gesuch wird stellen können.» Die Integrationsgeschichte Habtom Tekies ist für sie aber schon heute nichts weniger als eine «schöne Erfolgsgeschichte».
Tekie senkt den Blick. Eine Erfolgsgeschichte wäre für ihn auch, wenn er hier im Engadin eine Freundin finden würde. «Ich will nicht zwölf Kinder», sagt er und lacht unter seiner Gesichtsmaske, «aber von einer eigenen Familie träume ich natürlich schon».

Infotext:
Rund um die Sozialberatung
Das Sozialamt Graubünden (SOA) bietet Leistungen an, welche die soziale und berufliche Integration sowie die gesellschaftliche Teilhabe und Existenz verschiedener Personenkreise unterstützen, unter anderem sind das Familien, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderung, sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen, Opfer von beispielsweise häuslicher Gewalt oder Menschen mit Suchtproblemen. Dem kantonalen Sozialamt sind die regionalen Sozialdienste (RSD) Chur, Landquart, Thusis, Ilanz und Arco Sud (Poschiavo, Roveredo, Samedan, Scuol) angegliedert. Der RSD Unterengadin-Val Müstair hat seinen Sitz in Scuol, der RSD Oberengadin-Bergell in Samedan. Dieser beschäftigt sich mit den Gebieten Sozial- und Jugendberatung, berufliche Integration, Wohnraumsicherung, Beratung von Flüchtlingen oder der finanziellen Existenzsicherung. Die lösungs- und ressourcenorientierten Beratungsangebote der Sozialdienste sind kostenlos, freiwillig und unterstehen der Schweigepflicht. Zudem werden Ratsuchende in schwierigen Lebenssituationen unterstützt. Die Suchtberatung richtet sich sowohl an die Betroffenen selbst wie auch an ihre Angehörigen. Lesen Sie in einem weiteren Online-Beitrag die «Tribüne» des Puschlaver Sozialarbeiters Niccolò Nussio zur EP/PL-Schwerpunktwoche. Er schreibt darin über seine Tätigkeit als Sozial- und Suchtberater am RSD Oberengadin-Bergell in Samedan und am RSD Unterengadin-Val Müstair in Scuol.

Weiterführende Informationen unter: www.soa.gr.ch. Bei den Gemeinden und den Sozialdienststellen kann die kostenlose Broschüre «Willkommen – Informationen für Ausländerinnen und Ausländer» bezogen werden.

Autor und Foto: Jon Duschletta