Es ist Mitte Dezember, mitten in der Eishockey-Saison 2016/17, als der Stürmer des CdH La Plaiv mit der Rückennummer 86 beim Duschen einen kleinen Knoten am Hodensack ertastet. Schon seit ein paar Tagen verspürte er ein ungewöhnliches Ziehen zwischen den Beinen, schenkte diesem aber bis dahin keine Beachtung.
Der heute 34-jährige Gian Marco Tomaschett ist in Samedan geboren, in La Punt Chamues-ch aufgewachsen und später nach Klosters gezogen, wo er auch für den HC Prättigau-Herrschaft auf dem Eis stand. Vor rund 14 Jahren kehrt er «aus einer Laune heraus und nicht zuletzt dem Eishockey zuliebe» ins Engadin zurück.
Tomaschett kennt seinen Körper dank dem Sport in- und auswendig. Er merkt schnell, hier stimmt etwas nicht – und ruft seinen Hausarzt an. Dieser schickt ihn einen Tag nach seinem 30. Geburtstag und zwei Monate nach seiner Hochzeit ins Kantonsspital nach Chur zur weiteren Untersuchung. Dort ist die Diagnose schnell gestellt: Hodenkrebs.
Gian Marco Tomaschett hat eine klassische Elektrikerlehre abgeschlossen und sich danach weitergebildet. Ein berufsbegleitendes Ingenieurstudium bricht er nach zwei Jahren aus Zeitgründen ab und nimmt sich stattdessen der Meisterprüfung vor, die er blockweise absolvieren und 2013 erfolgreich abschliessen kann. Drei Jahre später macht er an der Churer Fachhochschule noch den Master in Business Administration. Seit zwei Jahren ist er der Leiter Elektroabteilung und stellvertretender Geschäftsführer bei der Koller Elektro AG. Daneben politisiert er für die SVP-Ortspartei im St. Moritzer Gemeinderat und stand diesem 2019 als Präsident vor. Und auch Eishockey spielt er weiter, allerdings bei den Senioren.

«Die schlimmste Nacht des Lebens»
Auch wenn Tomaschett mit dem Schlimmsten gerechnet hat, wird ihm in Chur nach der Diagnose schlecht, die Psyche fährt Achterbahn. Da nutzt im ersten Moment auch das Wissen, dass Hodenkrebs häufig bei jungen Männern auftritt, aber in den meisten Fällen und bei frühzeitigem Erkennen gut heilbar ist, herzlich wenig. Zusammen mit seiner Frau Andrea fährt er wieder nach Hause, informiert noch auf dem Weg sein privates, berufliches und sportliches Umfeld, packt ein paar Kleider in einen Koffer und erlebt «die schlimmste Nacht meines Lebens» bevor er bereits am nächsten Tag wieder nach Chur fährt und gleichentags operiert wird.
Obschon der Krebs keine offensichtlichen Ableger gebildet hatte, willigt er in eine vorsorgliche, einzyklische Chemotherapie ein, spendet für alle Fälle seine Spermien und fügt sich seinem Schicksal. Wie erwartet, verschlechtert sich sein Zustand während der ersten Woche der Chemo: «Ich hatte plötzlich keinen Geschmackssinn mehr, dafür Tinnitus, überall ein Kribbeln und kaum noch Kraft, um auf die Toilette zu gehen, obschon ich dauernd hätte Wasser lassen müssen», erinnert sich Tomaschett.

Sport und frische Luft anstatt Reha
Kaum zu Hause war das Verlangen nach einer scharfen Pizza da und bald auch schon wieder der Drang, sich sportlich zu betätigen. Zudem rückte der Engadin Skimarathon immer näher. «Nach einer Woche stand ich auf den Langlaufskiern, hab nach zehn Minuten in der Loipe aber den Rest des Tages geschlafen.» Er geht sogar Skifahren, bis der Arzt davon Wind bekommt und interveniert: «Stopp! Zu gefährlich!» Tomaschett spielt wenig später und innerhalb von zwei Tagen zwei Eishockey-Matches und verliert in der Nacht dazwischen seine Haare. Er verzichtet – weiterhin krankgeschrieben – auf eine Reha, treibt stattdessen Sport, bewegt sich an der frischen Luft und ist Stammgast an der alpinen Ski-WM in St. Moritz. «Das alles hat mir sicher gesundheitlich besser getan, als mich in der Reha unter Kranken aufzuhalten.»
Sein Arbeitgeber verhält sich vorbildlich, lässt ihn in Ruhe genesen und willigt später – nachdem Tomaschett wieder zu arbeiten begonnen und in ein psychisches Loch gefallen war – in seinen Wunsch ein, ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub zu nehmen. Er nutzt seine Auszeit und bereist zusammen mit seiner Frau Australien, Neuseeland und Hawaii, ehe sie noch drei Monate im kanadischen Whistler verbringen. «Dort stand ich gefühlte 60 Tage lang auf den Skiern – bis ich wegen Rückenschmerzen in die Physio musste.»
Gian Marco Tomaschett ist heute beschwerdefrei, seine Haare sind längst nachgewachsen, und in vielem ist er geduldiger und nachsichtiger geworden. «Es brauchte aber fast drei Jahre, bis ich wieder das nötige Vertrauen in meinen Körper hatte.» Dass er von Anfang an ganz offen und wie selbstverständlich über seine Krankheit gesprochen hat, hat viel zur Bewältigung beigetragen. «Männer sind da in der Regel wohl etwas verschlossener als Frauen», sagt er, «trotzdem habe ich gestaunt, wie viele gekommen sind und mir ähnliche Geschichten anvertraut haben».

«Offen sein und darüber sprechen»
Tomaschett ist erst auf die «Movember»-Bewegung gestossen, als er nach seiner Diagnose zum Thema Hodenkrebs recherchierte und im Internet per Zufall auf deren Homepage gestossen war (siehe Infotext am Schluss dieses Berichts). Ob mit oder ohne «Movember», «wichtig ist, dass sich niemand schämen sollte, wenn er an seinem Körper etwas Ungewöhnliches feststellt, eine Krankheit ausbricht und das Leben auf den Kopf gestellt wird.» Und ebenso wichtig ist, «offen damit umzugehen, darüber zu sprechen und das Umfeld mit einzubeziehen. Wir haben ein sehr gutes Gesundheitssystem, viele Krankheiten lassen sich heilen, aber nicht immer auch die Psyche.»
Die Zeit vergeht und schon ist wieder November. Weshalb trägt Gian Marco Tomaschett heuer keinen Schnurrbart, keinen Mo? Er lacht: «Mein Bartwuchs ist so schütter und rötlich, dass ich mir nur Ärger mit meiner Frau einhandele, wenn ich ihn wachsen lassen würde.»

Infotext: «Movember»: Mit Schnauz gegen Männerkrankheiten
Männer sterben im Schnitt rund sechs Jahre früher als Frauen, und die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass Jahr für Jahr weltweit über halbe Million Männer an einem Suizid sterben, das entspricht rund drei Viertel aller Suizide oder einem jede Minute.
Die 2006 in Australien gegründete Movember Foundation will hier Gegensteuer geben und fördert mit einer jeweils im November durchgeführten Sensibilisierungs- und Spendenkampagne Programme zur Förderung der psychischen Gesundheit von Männern und Projekte in den Bereichen Selbstmordprävention, Prostata- und Hodenkrebs. Prostatakrebs ist laut WHO die zweithäufigste Krebsart bei Männern. Die Stiftung Movember sieht sich als «weltweite Vermittlerin», will «Spass vermitteln und Gutes tun», aber auch Respekt, Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein aufbauen und im Rahmen des «Global Action Plans» Ärzte und Forscher aus der ganzen Welt vernetzen, «um gesundheitliche Ergebnisse rund um Prostata- und Hodenkrebs zu beschleunigen.» Das Markenzeichen der Aktion sind im November getragene Schnurrbärte – «Movember» leitet sich vom englischen «moustache» und November ab. 
www.movember.com

Autor und Foto: Jon Duschletta